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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
der Landrath sollte wie bisher ein Staatsdiener sein, aber zugleich ein
gering besoldeter Ehrenbeamter, ein Grundbesitzer aus dem Kreise selbst,
der Vertrauensmann der Kreiseingesessenen. Nur der Umfang der Kreise
schien dem erfahrenen Auge des Ministers zu groß für die Kräfte eines
Mannes, und er erwog bereits mit seinem Freunde Vincke die Anstellung
mehrerer Landräthe in jedem Kreise; sie sollten wie die englischen Friedens-
richter von Zeit zu Zeit in Quarter-Sessionen zusammentreten. Neben
dem Landrathe ein Kreistag aus sämmtlichen Rittergutsbesitzern und einigen
Abgeordneten der Städte und Dörfer. Die starke Vertretung des großen
Grundbesitzes gebot sich von selbst in einem Augenblicke, da Jedermann
noch bezweifelte, ob der rohe "Rusticalstand", die kaum erst freigewordenen
Bauern überhaupt fähig seien den Kreistag zu beschicken.

Den Oberpräsidenten wollte Stein Provinziallandtage an die Seite
stellen, damit die Eigenart und die Sonderinteressen der großen Land-
schaften innerhalb der Staatseinheit zu ihrem Rechte kämen. Er rühmte
sich gern, sein Verfassungsplan sei auf freies Eigenthum gegründet, gebe
das Wahlrecht allen "Eigenthümern" -- und dies bedeutete in seinem
Munde ausschließlich oder doch überwiegend: die Grundbesitzer in Stadt
und Land. Mit verwegener Hand hatte er die rechtlichen Schranken zwi-
schen den alten Ständen niedergerissen, es gab in Preußen keine Geburts-
stände mehr; jedoch über die thatsächlich noch vorhandenen, im Volksbewußt-
sein noch lebendigen Unterschiede der Berufsstände und Interessengruppen
wollte er nicht leichtfertig hinweggehen. Darum forderte er ständische
Wahlen für die Provinziallandtage, dergestalt daß Ritterschaft, Städte,
Bauerschaft für sich ihre Vertreter ernennen sollten, und verwarf die
Vorschläge seines schlesischen Freundes Rhediger, die von der alten stän-
dischen Gliederung gänzlich absahen. Ihm war es genug, wenn die Ge-
sammtheit der Stadtbürger und der Bauern ständische Vertretung erhielt,
während an den altständischen Landtagen nur einige bevorrechtigte Im-
mediatstädte und von den Bauern allein die ostpreußischen Köllmer theil-
genommen hatten. Ein erster Schritt nach diesem Ziele hin geschah noch
unter seiner Verwaltung. Ostpreußen erhielt, damit "die Regierung durch
die allgemeine Intelligenz unterstützt werde", eine neue Landschaftsordnung,
die den Köllmern gleiches Recht mit den Edelleuten und Zutritt zu den
landständischen Ausschüssen gewährte.

Aus diesen neuen Provinzialständen sollten endlich die preußischen
Reichsstände gewählt werden, als eine Stütze für die Krone, als das un-
umgängliche Mittel den Nationalgeist zu erwecken und zu beleben. Der
alte Absolutismus fühlte in diesen wilden Zeiten überall seine eigene
Ohnmacht. Als die Bedrängniß des Staatshaushalts den Verkauf der
Domänen gebot, wollte der König die Verantwortung für einen so ge-
wagten Schritt nicht allein auf sich nehmen; er ließ daher das neue
Hausgesetz über die Veräußerung der Domänen den Ständen aller Pro-

I. 3. Preußens Erhebung.
der Landrath ſollte wie bisher ein Staatsdiener ſein, aber zugleich ein
gering beſoldeter Ehrenbeamter, ein Grundbeſitzer aus dem Kreiſe ſelbſt,
der Vertrauensmann der Kreiseingeſeſſenen. Nur der Umfang der Kreiſe
ſchien dem erfahrenen Auge des Miniſters zu groß für die Kräfte eines
Mannes, und er erwog bereits mit ſeinem Freunde Vincke die Anſtellung
mehrerer Landräthe in jedem Kreiſe; ſie ſollten wie die engliſchen Friedens-
richter von Zeit zu Zeit in Quarter-Seſſionen zuſammentreten. Neben
dem Landrathe ein Kreistag aus ſämmtlichen Rittergutsbeſitzern und einigen
Abgeordneten der Städte und Dörfer. Die ſtarke Vertretung des großen
Grundbeſitzes gebot ſich von ſelbſt in einem Augenblicke, da Jedermann
noch bezweifelte, ob der rohe „Ruſticalſtand“, die kaum erſt freigewordenen
Bauern überhaupt fähig ſeien den Kreistag zu beſchicken.

Den Oberpräſidenten wollte Stein Provinziallandtage an die Seite
ſtellen, damit die Eigenart und die Sonderintereſſen der großen Land-
ſchaften innerhalb der Staatseinheit zu ihrem Rechte kämen. Er rühmte
ſich gern, ſein Verfaſſungsplan ſei auf freies Eigenthum gegründet, gebe
das Wahlrecht allen „Eigenthümern“ — und dies bedeutete in ſeinem
Munde ausſchließlich oder doch überwiegend: die Grundbeſitzer in Stadt
und Land. Mit verwegener Hand hatte er die rechtlichen Schranken zwi-
ſchen den alten Ständen niedergeriſſen, es gab in Preußen keine Geburts-
ſtände mehr; jedoch über die thatſächlich noch vorhandenen, im Volksbewußt-
ſein noch lebendigen Unterſchiede der Berufsſtände und Intereſſengruppen
wollte er nicht leichtfertig hinweggehen. Darum forderte er ſtändiſche
Wahlen für die Provinziallandtage, dergeſtalt daß Ritterſchaft, Städte,
Bauerſchaft für ſich ihre Vertreter ernennen ſollten, und verwarf die
Vorſchläge ſeines ſchleſiſchen Freundes Rhediger, die von der alten ſtän-
diſchen Gliederung gänzlich abſahen. Ihm war es genug, wenn die Ge-
ſammtheit der Stadtbürger und der Bauern ſtändiſche Vertretung erhielt,
während an den altſtändiſchen Landtagen nur einige bevorrechtigte Im-
mediatſtädte und von den Bauern allein die oſtpreußiſchen Köllmer theil-
genommen hatten. Ein erſter Schritt nach dieſem Ziele hin geſchah noch
unter ſeiner Verwaltung. Oſtpreußen erhielt, damit „die Regierung durch
die allgemeine Intelligenz unterſtützt werde“, eine neue Landſchaftsordnung,
die den Köllmern gleiches Recht mit den Edelleuten und Zutritt zu den
landſtändiſchen Ausſchüſſen gewährte.

Aus dieſen neuen Provinzialſtänden ſollten endlich die preußiſchen
Reichsſtände gewählt werden, als eine Stütze für die Krone, als das un-
umgängliche Mittel den Nationalgeiſt zu erwecken und zu beleben. Der
alte Abſolutismus fühlte in dieſen wilden Zeiten überall ſeine eigene
Ohnmacht. Als die Bedrängniß des Staatshaushalts den Verkauf der
Domänen gebot, wollte der König die Verantwortung für einen ſo ge-
wagten Schritt nicht allein auf ſich nehmen; er ließ daher das neue
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[286/0302] I. 3. Preußens Erhebung. der Landrath ſollte wie bisher ein Staatsdiener ſein, aber zugleich ein gering beſoldeter Ehrenbeamter, ein Grundbeſitzer aus dem Kreiſe ſelbſt, der Vertrauensmann der Kreiseingeſeſſenen. Nur der Umfang der Kreiſe ſchien dem erfahrenen Auge des Miniſters zu groß für die Kräfte eines Mannes, und er erwog bereits mit ſeinem Freunde Vincke die Anſtellung mehrerer Landräthe in jedem Kreiſe; ſie ſollten wie die engliſchen Friedens- richter von Zeit zu Zeit in Quarter-Seſſionen zuſammentreten. Neben dem Landrathe ein Kreistag aus ſämmtlichen Rittergutsbeſitzern und einigen Abgeordneten der Städte und Dörfer. Die ſtarke Vertretung des großen Grundbeſitzes gebot ſich von ſelbſt in einem Augenblicke, da Jedermann noch bezweifelte, ob der rohe „Ruſticalſtand“, die kaum erſt freigewordenen Bauern überhaupt fähig ſeien den Kreistag zu beſchicken. Den Oberpräſidenten wollte Stein Provinziallandtage an die Seite ſtellen, damit die Eigenart und die Sonderintereſſen der großen Land- ſchaften innerhalb der Staatseinheit zu ihrem Rechte kämen. Er rühmte ſich gern, ſein Verfaſſungsplan ſei auf freies Eigenthum gegründet, gebe das Wahlrecht allen „Eigenthümern“ — und dies bedeutete in ſeinem Munde ausſchließlich oder doch überwiegend: die Grundbeſitzer in Stadt und Land. Mit verwegener Hand hatte er die rechtlichen Schranken zwi- ſchen den alten Ständen niedergeriſſen, es gab in Preußen keine Geburts- ſtände mehr; jedoch über die thatſächlich noch vorhandenen, im Volksbewußt- ſein noch lebendigen Unterſchiede der Berufsſtände und Intereſſengruppen wollte er nicht leichtfertig hinweggehen. Darum forderte er ſtändiſche Wahlen für die Provinziallandtage, dergeſtalt daß Ritterſchaft, Städte, Bauerſchaft für ſich ihre Vertreter ernennen ſollten, und verwarf die Vorſchläge ſeines ſchleſiſchen Freundes Rhediger, die von der alten ſtän- diſchen Gliederung gänzlich abſahen. Ihm war es genug, wenn die Ge- ſammtheit der Stadtbürger und der Bauern ſtändiſche Vertretung erhielt, während an den altſtändiſchen Landtagen nur einige bevorrechtigte Im- mediatſtädte und von den Bauern allein die oſtpreußiſchen Köllmer theil- genommen hatten. Ein erſter Schritt nach dieſem Ziele hin geſchah noch unter ſeiner Verwaltung. Oſtpreußen erhielt, damit „die Regierung durch die allgemeine Intelligenz unterſtützt werde“, eine neue Landſchaftsordnung, die den Köllmern gleiches Recht mit den Edelleuten und Zutritt zu den landſtändiſchen Ausſchüſſen gewährte. Aus dieſen neuen Provinzialſtänden ſollten endlich die preußiſchen Reichsſtände gewählt werden, als eine Stütze für die Krone, als das un- umgängliche Mittel den Nationalgeiſt zu erwecken und zu beleben. Der alte Abſolutismus fühlte in dieſen wilden Zeiten überall ſeine eigene Ohnmacht. Als die Bedrängniß des Staatshaushalts den Verkauf der Domänen gebot, wollte der König die Verantwortung für einen ſo ge- wagten Schritt nicht allein auf ſich nehmen; er ließ daher das neue Hausgeſetz über die Veräußerung der Domänen den Ständen aller Pro-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/302>, abgerufen am 22.11.2024.