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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
ist für Napoleon das schärfste Gift"; keinen Augenblick glaubte er an die
Dauer der französischen Triumphe, denn dieser Sieger "hat zu wenig den
Sinn eines Königs".

Völlig überwältigt von der unerwarteten Niederlage hatte König Fried-
rich Wilhelm sogleich nach der Schlacht unter demüthigenden Bedingungen
den Frieden angeboten. Es waren die häßlichsten Tage seines Lebens;
einige seiner Räthe empfahlen schon den Eintritt Preußens in den Rhein-
bund. Erst der Uebermuth des Siegers gab dem unglücklichen Fürsten
das Bewußtsein seiner königlichen Pflichten wieder. Napoleon steigerte
seine Forderungen im Verlaufe der Unterhandlungen, verlangte außer der
Abtretung aller Lande links der Elbe auch noch, daß Preußen von dem
russischen Bündniß zurücktrete. Da erwachte der Stolz des Königs; sein
Gewissen konnte sich nicht entschließen, dasselbe zu thun, was Kaiser Franz
vor einem Jahre in ungleich günstigerer Lage unbedenklich gethan, und
den Bundesgenossen zu verlassen, den er soeben selbst um Hilfe gebeten
hatte. Als am 21. November im Hauptquartier zu Osterode Rath ge-
halten wurde über die Annahme des Waffenstillstandes, welchen Lucchesini
und Zastrow kleinmüthig unterschrieben hatten, da kam der Augenblick,
der die Männer von den Buben und den Klüglingen schied. Nicht blos
Stein, der die Kassen des Staates, die Mittel zur Fortsetzung des Krieges,
nach Ostpreußen gerettet hatte, stimmte für die Verwerfung des Vertrages,
sondern auch sein politischer Gegner, der hochconservative Graf Voß, einer
der Führer des märkischen Adels. Der König entschied in ihrem Sinne,
nahm die Waffen wieder auf hier in der entlegenen Ostmark des Reichs,
dem letzten Bollwerk deutscher Freiheit. Gleich darauf erhielt Haugwitz
seine Entlassung. Von jenem Tage an hat der vielverkannte Monarch,
wie oft er auch im Einzelnen irrte und schwankte, doch unverbrüchlich
durch sechs entsetzliche Jahre den Gedanken festgehalten: kein ehrlicher
Friede mit Frankreich als nach der Wiederherstellung des alten Preußens.
So begann der Feldzug in Ostpreußen, der erste, während dessen die
Sonne des Glücks dem Imperator nicht ungetrübt leuchtete, der erste,
der dem verzweifelnden Welttheil wieder die Ahnung erweckte, daß auch
dieser Allgewaltige nicht unüberwindlich sei.

Napoleons scharfes Auge erkannte rasch, daß er in Norddeutschland
die Zügel seiner Herrschaft straffer anziehen mußte als in den Kernlanden
des Rheinbundes. Im Süden umgaben ihn Frankreichs erprobte Bundes-
genossen, die ihre neugebildeten Staaten gelehrig nach neufranzösischen
Grundsätzen regierten; im Norden fand er ein zäheres, dem gallischen
Wesen völlig unzugängliches Volksthum, eine streng protestantische Cultur,
schwerfällige altständische Verfassungen, alte mit Preußen, England und
Rußland eng verbundene Fürstengeschlechter. Darum griff er hier von
Haus aus schärfer ein, behielt sich die ganze Masse des Nordwestens, die
Lande der Welfen, Hessen und Oranier, zur Ausstattung seiner eigenen

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
iſt für Napoleon das ſchärfſte Gift“; keinen Augenblick glaubte er an die
Dauer der franzöſiſchen Triumphe, denn dieſer Sieger „hat zu wenig den
Sinn eines Königs“.

Völlig überwältigt von der unerwarteten Niederlage hatte König Fried-
rich Wilhelm ſogleich nach der Schlacht unter demüthigenden Bedingungen
den Frieden angeboten. Es waren die häßlichſten Tage ſeines Lebens;
einige ſeiner Räthe empfahlen ſchon den Eintritt Preußens in den Rhein-
bund. Erſt der Uebermuth des Siegers gab dem unglücklichen Fürſten
das Bewußtſein ſeiner königlichen Pflichten wieder. Napoleon ſteigerte
ſeine Forderungen im Verlaufe der Unterhandlungen, verlangte außer der
Abtretung aller Lande links der Elbe auch noch, daß Preußen von dem
ruſſiſchen Bündniß zurücktrete. Da erwachte der Stolz des Königs; ſein
Gewiſſen konnte ſich nicht entſchließen, daſſelbe zu thun, was Kaiſer Franz
vor einem Jahre in ungleich günſtigerer Lage unbedenklich gethan, und
den Bundesgenoſſen zu verlaſſen, den er ſoeben ſelbſt um Hilfe gebeten
hatte. Als am 21. November im Hauptquartier zu Oſterode Rath ge-
halten wurde über die Annahme des Waffenſtillſtandes, welchen Luccheſini
und Zaſtrow kleinmüthig unterſchrieben hatten, da kam der Augenblick,
der die Männer von den Buben und den Klüglingen ſchied. Nicht blos
Stein, der die Kaſſen des Staates, die Mittel zur Fortſetzung des Krieges,
nach Oſtpreußen gerettet hatte, ſtimmte für die Verwerfung des Vertrages,
ſondern auch ſein politiſcher Gegner, der hochconſervative Graf Voß, einer
der Führer des märkiſchen Adels. Der König entſchied in ihrem Sinne,
nahm die Waffen wieder auf hier in der entlegenen Oſtmark des Reichs,
dem letzten Bollwerk deutſcher Freiheit. Gleich darauf erhielt Haugwitz
ſeine Entlaſſung. Von jenem Tage an hat der vielverkannte Monarch,
wie oft er auch im Einzelnen irrte und ſchwankte, doch unverbrüchlich
durch ſechs entſetzliche Jahre den Gedanken feſtgehalten: kein ehrlicher
Friede mit Frankreich als nach der Wiederherſtellung des alten Preußens.
So begann der Feldzug in Oſtpreußen, der erſte, während deſſen die
Sonne des Glücks dem Imperator nicht ungetrübt leuchtete, der erſte,
der dem verzweifelnden Welttheil wieder die Ahnung erweckte, daß auch
dieſer Allgewaltige nicht unüberwindlich ſei.

Napoleons ſcharfes Auge erkannte raſch, daß er in Norddeutſchland
die Zügel ſeiner Herrſchaft ſtraffer anziehen mußte als in den Kernlanden
des Rheinbundes. Im Süden umgaben ihn Frankreichs erprobte Bundes-
genoſſen, die ihre neugebildeten Staaten gelehrig nach neufranzöſiſchen
Grundſätzen regierten; im Norden fand er ein zäheres, dem galliſchen
Weſen völlig unzugängliches Volksthum, eine ſtreng proteſtantiſche Cultur,
ſchwerfällige altſtändiſche Verfaſſungen, alte mit Preußen, England und
Rußland eng verbundene Fürſtengeſchlechter. Darum griff er hier von
Haus aus ſchärfer ein, behielt ſich die ganze Maſſe des Nordweſtens, die
Lande der Welfen, Heſſen und Oranier, zur Ausſtattung ſeiner eigenen

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[254/0270] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. iſt für Napoleon das ſchärfſte Gift“; keinen Augenblick glaubte er an die Dauer der franzöſiſchen Triumphe, denn dieſer Sieger „hat zu wenig den Sinn eines Königs“. Völlig überwältigt von der unerwarteten Niederlage hatte König Fried- rich Wilhelm ſogleich nach der Schlacht unter demüthigenden Bedingungen den Frieden angeboten. Es waren die häßlichſten Tage ſeines Lebens; einige ſeiner Räthe empfahlen ſchon den Eintritt Preußens in den Rhein- bund. Erſt der Uebermuth des Siegers gab dem unglücklichen Fürſten das Bewußtſein ſeiner königlichen Pflichten wieder. Napoleon ſteigerte ſeine Forderungen im Verlaufe der Unterhandlungen, verlangte außer der Abtretung aller Lande links der Elbe auch noch, daß Preußen von dem ruſſiſchen Bündniß zurücktrete. Da erwachte der Stolz des Königs; ſein Gewiſſen konnte ſich nicht entſchließen, daſſelbe zu thun, was Kaiſer Franz vor einem Jahre in ungleich günſtigerer Lage unbedenklich gethan, und den Bundesgenoſſen zu verlaſſen, den er ſoeben ſelbſt um Hilfe gebeten hatte. Als am 21. November im Hauptquartier zu Oſterode Rath ge- halten wurde über die Annahme des Waffenſtillſtandes, welchen Luccheſini und Zaſtrow kleinmüthig unterſchrieben hatten, da kam der Augenblick, der die Männer von den Buben und den Klüglingen ſchied. Nicht blos Stein, der die Kaſſen des Staates, die Mittel zur Fortſetzung des Krieges, nach Oſtpreußen gerettet hatte, ſtimmte für die Verwerfung des Vertrages, ſondern auch ſein politiſcher Gegner, der hochconſervative Graf Voß, einer der Führer des märkiſchen Adels. Der König entſchied in ihrem Sinne, nahm die Waffen wieder auf hier in der entlegenen Oſtmark des Reichs, dem letzten Bollwerk deutſcher Freiheit. Gleich darauf erhielt Haugwitz ſeine Entlaſſung. Von jenem Tage an hat der vielverkannte Monarch, wie oft er auch im Einzelnen irrte und ſchwankte, doch unverbrüchlich durch ſechs entſetzliche Jahre den Gedanken feſtgehalten: kein ehrlicher Friede mit Frankreich als nach der Wiederherſtellung des alten Preußens. So begann der Feldzug in Oſtpreußen, der erſte, während deſſen die Sonne des Glücks dem Imperator nicht ungetrübt leuchtete, der erſte, der dem verzweifelnden Welttheil wieder die Ahnung erweckte, daß auch dieſer Allgewaltige nicht unüberwindlich ſei. Napoleons ſcharfes Auge erkannte raſch, daß er in Norddeutſchland die Zügel ſeiner Herrſchaft ſtraffer anziehen mußte als in den Kernlanden des Rheinbundes. Im Süden umgaben ihn Frankreichs erprobte Bundes- genoſſen, die ihre neugebildeten Staaten gelehrig nach neufranzöſiſchen Grundſätzen regierten; im Norden fand er ein zäheres, dem galliſchen Weſen völlig unzugängliches Volksthum, eine ſtreng proteſtantiſche Cultur, ſchwerfällige altſtändiſche Verfaſſungen, alte mit Preußen, England und Rußland eng verbundene Fürſtengeſchlechter. Darum griff er hier von Haus aus ſchärfer ein, behielt ſich die ganze Maſſe des Nordweſtens, die Lande der Welfen, Heſſen und Oranier, zur Ausſtattung ſeiner eigenen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/270>, abgerufen am 22.11.2024.