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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
zwischen Oesterreich und Frankreich eines Schutzes bedurften und auf neue
Geschenke napoleonischer Gnade hofften; einige trösteten sich wohl ins-
geheim mit dem Gedanken, die französische Uebermacht werde nicht ewig
dauern; die Souveränität aber hielten sie sämmtlich fest als einen Schatz für
alle Zeiten. Der deutsche Particularismus trat in seiner Sünden Blüthe.

Napoleon versagte sichs nicht, in einem Briefe an Dalberg an den
uralten Landesverrath der deutschen Kleinfürsten höhnisch zu erinnern; er
nannte die Politik des Rheinbundes conservativ, denn sie stelle nur von
Rechtswegen ein Schutzverhältniß her, das in der That schon seit mehreren
Jahrhunderten bestanden habe. Doch zugleich schmeichelte er klug dem
dynastischen Dünkel: kein Oberlehnsherr stehe mehr über den deutschen
Fürsten, kein fremdes Gericht dürfe sich in ihre Landesangelegenheiten
mischen; er selber übe nur die einfache Pflicht des Schutzes, die keinen
höheren Zweck habe als den Verbündeten die volle Souveränität zu gewähr-
leisten. Das verheißene Fundamentalstatut des Rheinbundes ist nie er-
schienen, der Bundestag mit seinen zwei Räthen nie zusammengetreten;
diesem Werke der rohen Gewalt fehlte von Haus aus die Fähigkeit recht-
licher Weiterbildung. Dem Protector, der schon seinem zahmen Gesetz-
gebenden Körper in Paris ein unwilliges vous chicanez le pouvoir!
zurief, lag wenig daran, auch noch durch die schwerfälligen Berathungen
eines rheinischen Bundestags belästigt zu werden; ihm genügte, daß er
jetzt mit den deutschen Regimentern vom linken Rheinufer an 150,000
deutsche Soldaten unter seinem Befehle hielt. Die beiden Könige des
Rheinbundes aber verhehlten nicht ihren Widerwillen gegen jede bündische
Unterordnung und verwarfen kurzweg alle die Pläne für den Ausbau des
Bundes, welche der neue Fürstprimas Dalberg mit unerschöpflicher Be-
geisterung entwarf.

Das Bundesgebiet erstreckte sich vom Inn bis zum Rhein über den
ganzen Südwesten, reichte dann nordwärts bis tief nach Westphalen hinein,
den preußischen Staat und seine kleinen Verbündeten in weitem Bogen
umklammernd; und der Artikel 39 der Rheinbundsakte kündete bereits
drohend an, daß auch anderen deutschen Staaten der Eintritt vorbehalten
bleibe. Was im Süden und Westen noch übrig war von kleinen Reichs-
ständen wurde der Landeshoheit der sechzehn Verbündeten unterworfen:
alle Fürsten und Grafen, alle Reichsritter, so viele sich in den Stürmen
der jüngsten Jahre noch behauptet hatten, die beiden Ritterorden, die
Reichsstädte Nürnberg und Frankfurt, zusammen ein Gebiet von 550 Ge-
viertmeilen und fast fünfviertel Millionen Einwohnern. Aller Schmutz,
der an dem Reichsdeputationshauptschlusse haftete, verschwand neben der
entsetzlichen Roheit dieser neuen Gewaltthat; denn nicht durch das Reich
selber und nicht unter dem Vorwande der Entschädigung, sondern durch
die nackte Willkür einer Handvoll eidbrüchiger Fürsten und unter dem
Schutze des napoleonischen Heeres wurde jetzt die Vernichtung verhängt über

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
zwiſchen Oeſterreich und Frankreich eines Schutzes bedurften und auf neue
Geſchenke napoleoniſcher Gnade hofften; einige tröſteten ſich wohl ins-
geheim mit dem Gedanken, die franzöſiſche Uebermacht werde nicht ewig
dauern; die Souveränität aber hielten ſie ſämmtlich feſt als einen Schatz für
alle Zeiten. Der deutſche Particularismus trat in ſeiner Sünden Blüthe.

Napoleon verſagte ſichs nicht, in einem Briefe an Dalberg an den
uralten Landesverrath der deutſchen Kleinfürſten höhniſch zu erinnern; er
nannte die Politik des Rheinbundes conſervativ, denn ſie ſtelle nur von
Rechtswegen ein Schutzverhältniß her, das in der That ſchon ſeit mehreren
Jahrhunderten beſtanden habe. Doch zugleich ſchmeichelte er klug dem
dynaſtiſchen Dünkel: kein Oberlehnsherr ſtehe mehr über den deutſchen
Fürſten, kein fremdes Gericht dürfe ſich in ihre Landesangelegenheiten
miſchen; er ſelber übe nur die einfache Pflicht des Schutzes, die keinen
höheren Zweck habe als den Verbündeten die volle Souveränität zu gewähr-
leiſten. Das verheißene Fundamentalſtatut des Rheinbundes iſt nie er-
ſchienen, der Bundestag mit ſeinen zwei Räthen nie zuſammengetreten;
dieſem Werke der rohen Gewalt fehlte von Haus aus die Fähigkeit recht-
licher Weiterbildung. Dem Protector, der ſchon ſeinem zahmen Geſetz-
gebenden Körper in Paris ein unwilliges vous chicanez le pouvoir!
zurief, lag wenig daran, auch noch durch die ſchwerfälligen Berathungen
eines rheiniſchen Bundestags beläſtigt zu werden; ihm genügte, daß er
jetzt mit den deutſchen Regimentern vom linken Rheinufer an 150,000
deutſche Soldaten unter ſeinem Befehle hielt. Die beiden Könige des
Rheinbundes aber verhehlten nicht ihren Widerwillen gegen jede bündiſche
Unterordnung und verwarfen kurzweg alle die Pläne für den Ausbau des
Bundes, welche der neue Fürſtprimas Dalberg mit unerſchöpflicher Be-
geiſterung entwarf.

Das Bundesgebiet erſtreckte ſich vom Inn bis zum Rhein über den
ganzen Südweſten, reichte dann nordwärts bis tief nach Weſtphalen hinein,
den preußiſchen Staat und ſeine kleinen Verbündeten in weitem Bogen
umklammernd; und der Artikel 39 der Rheinbundsakte kündete bereits
drohend an, daß auch anderen deutſchen Staaten der Eintritt vorbehalten
bleibe. Was im Süden und Weſten noch übrig war von kleinen Reichs-
ſtänden wurde der Landeshoheit der ſechzehn Verbündeten unterworfen:
alle Fürſten und Grafen, alle Reichsritter, ſo viele ſich in den Stürmen
der jüngſten Jahre noch behauptet hatten, die beiden Ritterorden, die
Reichsſtädte Nürnberg und Frankfurt, zuſammen ein Gebiet von 550 Ge-
viertmeilen und faſt fünfviertel Millionen Einwohnern. Aller Schmutz,
der an dem Reichsdeputationshauptſchluſſe haftete, verſchwand neben der
entſetzlichen Roheit dieſer neuen Gewaltthat; denn nicht durch das Reich
ſelber und nicht unter dem Vorwande der Entſchädigung, ſondern durch
die nackte Willkür einer Handvoll eidbrüchiger Fürſten und unter dem
Schutze des napoleoniſchen Heeres wurde jetzt die Vernichtung verhängt über

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[232/0248] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. zwiſchen Oeſterreich und Frankreich eines Schutzes bedurften und auf neue Geſchenke napoleoniſcher Gnade hofften; einige tröſteten ſich wohl ins- geheim mit dem Gedanken, die franzöſiſche Uebermacht werde nicht ewig dauern; die Souveränität aber hielten ſie ſämmtlich feſt als einen Schatz für alle Zeiten. Der deutſche Particularismus trat in ſeiner Sünden Blüthe. Napoleon verſagte ſichs nicht, in einem Briefe an Dalberg an den uralten Landesverrath der deutſchen Kleinfürſten höhniſch zu erinnern; er nannte die Politik des Rheinbundes conſervativ, denn ſie ſtelle nur von Rechtswegen ein Schutzverhältniß her, das in der That ſchon ſeit mehreren Jahrhunderten beſtanden habe. Doch zugleich ſchmeichelte er klug dem dynaſtiſchen Dünkel: kein Oberlehnsherr ſtehe mehr über den deutſchen Fürſten, kein fremdes Gericht dürfe ſich in ihre Landesangelegenheiten miſchen; er ſelber übe nur die einfache Pflicht des Schutzes, die keinen höheren Zweck habe als den Verbündeten die volle Souveränität zu gewähr- leiſten. Das verheißene Fundamentalſtatut des Rheinbundes iſt nie er- ſchienen, der Bundestag mit ſeinen zwei Räthen nie zuſammengetreten; dieſem Werke der rohen Gewalt fehlte von Haus aus die Fähigkeit recht- licher Weiterbildung. Dem Protector, der ſchon ſeinem zahmen Geſetz- gebenden Körper in Paris ein unwilliges vous chicanez le pouvoir! zurief, lag wenig daran, auch noch durch die ſchwerfälligen Berathungen eines rheiniſchen Bundestags beläſtigt zu werden; ihm genügte, daß er jetzt mit den deutſchen Regimentern vom linken Rheinufer an 150,000 deutſche Soldaten unter ſeinem Befehle hielt. Die beiden Könige des Rheinbundes aber verhehlten nicht ihren Widerwillen gegen jede bündiſche Unterordnung und verwarfen kurzweg alle die Pläne für den Ausbau des Bundes, welche der neue Fürſtprimas Dalberg mit unerſchöpflicher Be- geiſterung entwarf. Das Bundesgebiet erſtreckte ſich vom Inn bis zum Rhein über den ganzen Südweſten, reichte dann nordwärts bis tief nach Weſtphalen hinein, den preußiſchen Staat und ſeine kleinen Verbündeten in weitem Bogen umklammernd; und der Artikel 39 der Rheinbundsakte kündete bereits drohend an, daß auch anderen deutſchen Staaten der Eintritt vorbehalten bleibe. Was im Süden und Weſten noch übrig war von kleinen Reichs- ſtänden wurde der Landeshoheit der ſechzehn Verbündeten unterworfen: alle Fürſten und Grafen, alle Reichsritter, ſo viele ſich in den Stürmen der jüngſten Jahre noch behauptet hatten, die beiden Ritterorden, die Reichsſtädte Nürnberg und Frankfurt, zuſammen ein Gebiet von 550 Ge- viertmeilen und faſt fünfviertel Millionen Einwohnern. Aller Schmutz, der an dem Reichsdeputationshauptſchluſſe haftete, verſchwand neben der entſetzlichen Roheit dieſer neuen Gewaltthat; denn nicht durch das Reich ſelber und nicht unter dem Vorwande der Entſchädigung, ſondern durch die nackte Willkür einer Handvoll eidbrüchiger Fürſten und unter dem Schutze des napoleoniſchen Heeres wurde jetzt die Vernichtung verhängt über

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/248>, abgerufen am 23.11.2024.