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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Literarischer Nationalstolz.
Vaterland da finde "wo Licht ist und Recht". Und doch redete schon
aus diesen Vorträgen ein thatenfroher Sinn, der über die Welt der
Theorie hinausstrebte. Jeder Satz predigte den strengen Dienst der Pflicht;
es giebt nur eine Tugend: sich selbst als Person zu vergessen, und nur
ein Laster: an sich selbst zu denken. Der also sprach, wußte selber noch
nicht recht, daß er in seinen herben Mahnungen an die schlaffe Zeit die
mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine
kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit seinen weltbürgerlichen
Träumen in schneidendem Widerspruche stand: am letzten Ende sei doch
der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt jede Kraft des
Einzelnen für sich in Anspruch zu nehmen.

Also bereitete sich im Schooße der Literatur selber eine neue politische
Bildung vor. Wer die unheimlichen Widersprüche der deutschen Zustände
nur flüchtig betrachtete -- solche Blüthe des geistigen und solchen Jammer
des politischen Lebens dicht neben einander -- der mochte sich wohl an
jene Zeiten des makedonischen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner
auf dem Grabe griechischer Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia
das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das besiegte Athen
mit seinen Prachtbauten schmückte: ganz so unsicher wie einst Hellas zwischen
Persien und Makedonien stand das gedankenschwere Deutschland zwischen
Oesterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutschen Dinge
keineswegs so hoffnungslos. Der trübselige Spruch, daß die Eule der
Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas,
nicht für Deutschland. Unsere classische Literatur war nicht das Aus-
klingen einer alten Gesittung, sondern der vielverheißende Anfang einer
neuen Entwicklung. Hier faßte kein Aristoteles die letzten Ergebnisse einer
Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankensysteme zusammen,
sondern ein junges, in allen seinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts-
sicheres Geschlecht überraschte die Welt mit immer neuen Entdeckungen.
Keinen Augenblick ist den geistigen Führern der Nation der Glaube an
Deutschlands große Bestimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden
Verfassung, sagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die
Deutschen doch die Rettung Europas. Im selben Sinne schrieb Novalis:
während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem
Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde sich der Deutsche mit allem Fleiße
zum Zeitgenossen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe
der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbst der
schwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der "thatenarmen und ge-
dankenvollen" Deutschen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung:

Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt,
Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald?

Die Gesinnung der Knechte ist diesem Geschlechte von Dichtern und
Denkern immer fremd geblieben. Wohl sendete auch Deutschland seine

14*

Literariſcher Nationalſtolz.
Vaterland da finde „wo Licht iſt und Recht“. Und doch redete ſchon
aus dieſen Vorträgen ein thatenfroher Sinn, der über die Welt der
Theorie hinausſtrebte. Jeder Satz predigte den ſtrengen Dienſt der Pflicht;
es giebt nur eine Tugend: ſich ſelbſt als Perſon zu vergeſſen, und nur
ein Laſter: an ſich ſelbſt zu denken. Der alſo ſprach, wußte ſelber noch
nicht recht, daß er in ſeinen herben Mahnungen an die ſchlaffe Zeit die
mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine
kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit ſeinen weltbürgerlichen
Träumen in ſchneidendem Widerſpruche ſtand: am letzten Ende ſei doch
der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt jede Kraft des
Einzelnen für ſich in Anſpruch zu nehmen.

Alſo bereitete ſich im Schooße der Literatur ſelber eine neue politiſche
Bildung vor. Wer die unheimlichen Widerſprüche der deutſchen Zuſtände
nur flüchtig betrachtete — ſolche Blüthe des geiſtigen und ſolchen Jammer
des politiſchen Lebens dicht neben einander — der mochte ſich wohl an
jene Zeiten des makedoniſchen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner
auf dem Grabe griechiſcher Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia
das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das beſiegte Athen
mit ſeinen Prachtbauten ſchmückte: ganz ſo unſicher wie einſt Hellas zwiſchen
Perſien und Makedonien ſtand das gedankenſchwere Deutſchland zwiſchen
Oeſterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutſchen Dinge
keineswegs ſo hoffnungslos. Der trübſelige Spruch, daß die Eule der
Minerva erſt in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas,
nicht für Deutſchland. Unſere claſſiſche Literatur war nicht das Aus-
klingen einer alten Geſittung, ſondern der vielverheißende Anfang einer
neuen Entwicklung. Hier faßte kein Ariſtoteles die letzten Ergebniſſe einer
Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankenſyſteme zuſammen,
ſondern ein junges, in allen ſeinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts-
ſicheres Geſchlecht überraſchte die Welt mit immer neuen Entdeckungen.
Keinen Augenblick iſt den geiſtigen Führern der Nation der Glaube an
Deutſchlands große Beſtimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden
Verfaſſung, ſagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die
Deutſchen doch die Rettung Europas. Im ſelben Sinne ſchrieb Novalis:
während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem
Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde ſich der Deutſche mit allem Fleiße
zum Zeitgenoſſen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe
der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbſt der
ſchwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der „thatenarmen und ge-
dankenvollen“ Deutſchen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung:

Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt,
Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald?

Die Geſinnung der Knechte iſt dieſem Geſchlechte von Dichtern und
Denkern immer fremd geblieben. Wohl ſendete auch Deutſchland ſeine

14*
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[211/0227] Literariſcher Nationalſtolz. Vaterland da finde „wo Licht iſt und Recht“. Und doch redete ſchon aus dieſen Vorträgen ein thatenfroher Sinn, der über die Welt der Theorie hinausſtrebte. Jeder Satz predigte den ſtrengen Dienſt der Pflicht; es giebt nur eine Tugend: ſich ſelbſt als Perſon zu vergeſſen, und nur ein Laſter: an ſich ſelbſt zu denken. Der alſo ſprach, wußte ſelber noch nicht recht, daß er in ſeinen herben Mahnungen an die ſchlaffe Zeit die mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit ſeinen weltbürgerlichen Träumen in ſchneidendem Widerſpruche ſtand: am letzten Ende ſei doch der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt jede Kraft des Einzelnen für ſich in Anſpruch zu nehmen. Alſo bereitete ſich im Schooße der Literatur ſelber eine neue politiſche Bildung vor. Wer die unheimlichen Widerſprüche der deutſchen Zuſtände nur flüchtig betrachtete — ſolche Blüthe des geiſtigen und ſolchen Jammer des politiſchen Lebens dicht neben einander — der mochte ſich wohl an jene Zeiten des makedoniſchen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner auf dem Grabe griechiſcher Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das beſiegte Athen mit ſeinen Prachtbauten ſchmückte: ganz ſo unſicher wie einſt Hellas zwiſchen Perſien und Makedonien ſtand das gedankenſchwere Deutſchland zwiſchen Oeſterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutſchen Dinge keineswegs ſo hoffnungslos. Der trübſelige Spruch, daß die Eule der Minerva erſt in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas, nicht für Deutſchland. Unſere claſſiſche Literatur war nicht das Aus- klingen einer alten Geſittung, ſondern der vielverheißende Anfang einer neuen Entwicklung. Hier faßte kein Ariſtoteles die letzten Ergebniſſe einer Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankenſyſteme zuſammen, ſondern ein junges, in allen ſeinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts- ſicheres Geſchlecht überraſchte die Welt mit immer neuen Entdeckungen. Keinen Augenblick iſt den geiſtigen Führern der Nation der Glaube an Deutſchlands große Beſtimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden Verfaſſung, ſagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die Deutſchen doch die Rettung Europas. Im ſelben Sinne ſchrieb Novalis: während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde ſich der Deutſche mit allem Fleiße zum Zeitgenoſſen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbſt der ſchwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der „thatenarmen und ge- dankenvollen“ Deutſchen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung: Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt, Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald? Die Geſinnung der Knechte iſt dieſem Geſchlechte von Dichtern und Denkern immer fremd geblieben. Wohl ſendete auch Deutſchland ſeine 14*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/227>, abgerufen am 27.11.2024.