in den Mythen des altgermanischen Heidenthums noch ein unerschöpf- licher Schatz gemüthvollen Tiefsinns verborgen liege. Johannes Müller gab in seiner Schweizergeschichte zum ersten male eine ausführliche Schilde- rung mittelalterlichen Lebens, die trotz ihrer geschraubten und gesuchten Rhetorik doch tief und lebendig war und eine Menge neuer Gesichtspunkte aufstellte; er war es auch, der zuerst auf die heldenhafte Großheit des Nibelungenliedes hinwies. Im Jahre 1803 erschien Tiecks Sammlung der deutschen Minnelieder. Drei Jahre darauf ließ Schenkendorf seinen Hilferuf erschallen gegen die Nützlichkeitsbarbaren, die sich an dem alt- ehrwürdigen Hochmeisterschlosse zu Marienburg vergreifen wollten; die viel- verspottete Gothik wurde jetzt unter dem Namen der altdeutschen Baukunst gepriesen.
So begann von allen Seiten her die Einkehr in das deutsche Leben; ein großer Umschwung kündigte sich an, der bald nachher durch den Druck des fremden Joches, durch das Erwachen des Nationalhasses beschleunigt wurde. Die ästhetische Freude am Alten und Volksthümlichen machte die Romantiker zu Gegnern der Revolution; sie haßten "den glattgewalzten Rasen" der modernen Rechtsgleichheit, sie haßten das Naturrecht, das die schöne Mannichfaltigkeit der historischen Erscheinungen unter die Scheere seiner kahlen Regeln nahm, sie verabscheuten das neue Weltreich, das den Reichthum nationaler Staats- und Rechtsbildungen zu zerstören drohte. Es geschah zum ersten male in aller Geschichte und konnte nur in einem so durchaus idealistischen Volke geschehen, daß eine ursprünglich rein ästhe- tische Bewegung die politischen Anschauungen verjüngte und umgestaltete. Für dies Geschlecht war die Poesie wirklich der Ocean, dem Alles ent- strömte. Wenn Wissenschaft, Glauben und Kunst als die nothwendigen Gebilde des Volksgeistes verstanden werden sollten, so doch sicherlich auch Recht und Staat; früher oder später mußte dieser nothwendige Schluß gezogen und der Gedanke des nationalen Staates für die deutsche Wissen- schaft erobert werden. Die Verbindung zwischen Friedrich Gentz und der romantischen Schule beruhte auf dem Gefühle einer tiefen inneren Verwandtschaft, und gradeswegs aus den geschichtsphilosophischen Ideen und Ahnungen der Romantiker ist nachher die historische Staatslehre Nie- buhrs und Savignys hervorgegangen.
Ebenso folgenreich wurde die Wiederbelebung des religiösen Gefühls, die sich in dem jungen Geschlechte vorbereitete. Die classische Dichtung hielt sich dem kirchlichen Leben fern; sie wollte "aus Religion" keine der bestehenden Religionen bekennen, obgleich sie mit den sittlichen Grund- gedanken des Protestantismus innig verwachsen war. Kant sah in der Religion die Erkenntniß unserer Pflichten als göttlicher Gebote, die Auf- nahme des Göttlichen in den Willen; seine erhabene Strenge wurde den Gefühlen des gläubigen Herzens, dem Drange der Erhebung und Er- gebung nicht völlig gerecht. Eben diese wunderbare Welt des Gefühles,
Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 14
Einkehr in das deutſche Leben.
in den Mythen des altgermaniſchen Heidenthums noch ein unerſchöpf- licher Schatz gemüthvollen Tiefſinns verborgen liege. Johannes Müller gab in ſeiner Schweizergeſchichte zum erſten male eine ausführliche Schilde- rung mittelalterlichen Lebens, die trotz ihrer geſchraubten und geſuchten Rhetorik doch tief und lebendig war und eine Menge neuer Geſichtspunkte aufſtellte; er war es auch, der zuerſt auf die heldenhafte Großheit des Nibelungenliedes hinwies. Im Jahre 1803 erſchien Tiecks Sammlung der deutſchen Minnelieder. Drei Jahre darauf ließ Schenkendorf ſeinen Hilferuf erſchallen gegen die Nützlichkeitsbarbaren, die ſich an dem alt- ehrwürdigen Hochmeiſterſchloſſe zu Marienburg vergreifen wollten; die viel- verſpottete Gothik wurde jetzt unter dem Namen der altdeutſchen Baukunſt geprieſen.
So begann von allen Seiten her die Einkehr in das deutſche Leben; ein großer Umſchwung kündigte ſich an, der bald nachher durch den Druck des fremden Joches, durch das Erwachen des Nationalhaſſes beſchleunigt wurde. Die äſthetiſche Freude am Alten und Volksthümlichen machte die Romantiker zu Gegnern der Revolution; ſie haßten „den glattgewalzten Raſen“ der modernen Rechtsgleichheit, ſie haßten das Naturrecht, das die ſchöne Mannichfaltigkeit der hiſtoriſchen Erſcheinungen unter die Scheere ſeiner kahlen Regeln nahm, ſie verabſcheuten das neue Weltreich, das den Reichthum nationaler Staats- und Rechtsbildungen zu zerſtören drohte. Es geſchah zum erſten male in aller Geſchichte und konnte nur in einem ſo durchaus idealiſtiſchen Volke geſchehen, daß eine urſprünglich rein äſthe- tiſche Bewegung die politiſchen Anſchauungen verjüngte und umgeſtaltete. Für dies Geſchlecht war die Poeſie wirklich der Ocean, dem Alles ent- ſtrömte. Wenn Wiſſenſchaft, Glauben und Kunſt als die nothwendigen Gebilde des Volksgeiſtes verſtanden werden ſollten, ſo doch ſicherlich auch Recht und Staat; früher oder ſpäter mußte dieſer nothwendige Schluß gezogen und der Gedanke des nationalen Staates für die deutſche Wiſſen- ſchaft erobert werden. Die Verbindung zwiſchen Friedrich Gentz und der romantiſchen Schule beruhte auf dem Gefühle einer tiefen inneren Verwandtſchaft, und gradeswegs aus den geſchichtsphiloſophiſchen Ideen und Ahnungen der Romantiker iſt nachher die hiſtoriſche Staatslehre Nie- buhrs und Savignys hervorgegangen.
Ebenſo folgenreich wurde die Wiederbelebung des religiöſen Gefühls, die ſich in dem jungen Geſchlechte vorbereitete. Die claſſiſche Dichtung hielt ſich dem kirchlichen Leben fern; ſie wollte „aus Religion“ keine der beſtehenden Religionen bekennen, obgleich ſie mit den ſittlichen Grund- gedanken des Proteſtantismus innig verwachſen war. Kant ſah in der Religion die Erkenntniß unſerer Pflichten als göttlicher Gebote, die Auf- nahme des Göttlichen in den Willen; ſeine erhabene Strenge wurde den Gefühlen des gläubigen Herzens, dem Drange der Erhebung und Er- gebung nicht völlig gerecht. Eben dieſe wunderbare Welt des Gefühles,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 14
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Einkehr in das deutſche Leben.
in den Mythen des altgermaniſchen Heidenthums noch ein unerſchöpf-
licher Schatz gemüthvollen Tiefſinns verborgen liege. Johannes Müller
gab in ſeiner Schweizergeſchichte zum erſten male eine ausführliche Schilde-
rung mittelalterlichen Lebens, die trotz ihrer geſchraubten und geſuchten
Rhetorik doch tief und lebendig war und eine Menge neuer Geſichtspunkte
aufſtellte; er war es auch, der zuerſt auf die heldenhafte Großheit des
Nibelungenliedes hinwies. Im Jahre 1803 erſchien Tiecks Sammlung
der deutſchen Minnelieder. Drei Jahre darauf ließ Schenkendorf ſeinen
Hilferuf erſchallen gegen die Nützlichkeitsbarbaren, die ſich an dem alt-
ehrwürdigen Hochmeiſterſchloſſe zu Marienburg vergreifen wollten; die viel-
verſpottete Gothik wurde jetzt unter dem Namen der altdeutſchen Baukunſt
geprieſen.
So begann von allen Seiten her die Einkehr in das deutſche Leben;
ein großer Umſchwung kündigte ſich an, der bald nachher durch den Druck
des fremden Joches, durch das Erwachen des Nationalhaſſes beſchleunigt
wurde. Die äſthetiſche Freude am Alten und Volksthümlichen machte die
Romantiker zu Gegnern der Revolution; ſie haßten „den glattgewalzten
Raſen“ der modernen Rechtsgleichheit, ſie haßten das Naturrecht, das die
ſchöne Mannichfaltigkeit der hiſtoriſchen Erſcheinungen unter die Scheere
ſeiner kahlen Regeln nahm, ſie verabſcheuten das neue Weltreich, das den
Reichthum nationaler Staats- und Rechtsbildungen zu zerſtören drohte.
Es geſchah zum erſten male in aller Geſchichte und konnte nur in einem
ſo durchaus idealiſtiſchen Volke geſchehen, daß eine urſprünglich rein äſthe-
tiſche Bewegung die politiſchen Anſchauungen verjüngte und umgeſtaltete.
Für dies Geſchlecht war die Poeſie wirklich der Ocean, dem Alles ent-
ſtrömte. Wenn Wiſſenſchaft, Glauben und Kunſt als die nothwendigen
Gebilde des Volksgeiſtes verſtanden werden ſollten, ſo doch ſicherlich auch
Recht und Staat; früher oder ſpäter mußte dieſer nothwendige Schluß
gezogen und der Gedanke des nationalen Staates für die deutſche Wiſſen-
ſchaft erobert werden. Die Verbindung zwiſchen Friedrich Gentz und
der romantiſchen Schule beruhte auf dem Gefühle einer tiefen inneren
Verwandtſchaft, und gradeswegs aus den geſchichtsphiloſophiſchen Ideen
und Ahnungen der Romantiker iſt nachher die hiſtoriſche Staatslehre Nie-
buhrs und Savignys hervorgegangen.
Ebenſo folgenreich wurde die Wiederbelebung des religiöſen Gefühls,
die ſich in dem jungen Geſchlechte vorbereitete. Die claſſiſche Dichtung
hielt ſich dem kirchlichen Leben fern; ſie wollte „aus Religion“ keine der
beſtehenden Religionen bekennen, obgleich ſie mit den ſittlichen Grund-
gedanken des Proteſtantismus innig verwachſen war. Kant ſah in der
Religion die Erkenntniß unſerer Pflichten als göttlicher Gebote, die Auf-
nahme des Göttlichen in den Willen; ſeine erhabene Strenge wurde den
Gefühlen des gläubigen Herzens, dem Drange der Erhebung und Er-
gebung nicht völlig gerecht. Eben dieſe wunderbare Welt des Gefühles,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 14
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/225>, abgerufen am 24.11.2024.
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