auf die bildungsstolzen Zeitgenossen geringen Eindruck. Aber mit Ent- zücken erkannten sie sich selber wieder in den Gestalten des Wilhelm Meister: in diesen staatlosen Menschen ohne Vaterland, ohne Familie, ohne Beruf, die von aller Gebundenheit des historischen Daseins frei, nur einen Lebensinhalt kennen: den leidenschaftlichen Drang nach menschlicher Bildung. In dieser Odyssee der Bildung hielt Goethe seinem Zeitalter einen Spiegel vor, der alle Züge jener literarischen Epoche, ihre Schwächen wie ihre Lebensfülle, in wunderbarer Klarheit wiedergab, und löste zu- gleich, was noch keinem Poeten ganz gelungen war, die höchste Aufgabe des Romandichters: er zeigte, wie das Leben den strebenden und irrenden Menschen erzieht.
Minder vielseitig, aber rastlos mit seinem Pfunde wuchernd errang sich Schiller indessen die Herrschaft auf der deutschen Bühne. Die ge- waltsame dramatische Aufregung, welche Goethe gern von sich fern hielt, war ihm Bedürfniß; glänzende Bilder von Kampf und Sieg schritten durch seine Träume, das Schmettern der Trompeten, das Rauschen der Fahnen und der Klang der Schwerter verfolgten ihn noch bis auf sein Todesbette. Die Leidenschaften des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit, jene mächtigen Schicksalswandlungen, die über Völkerleid und Völkergröße ent- scheiden, boten seinem dramatischen Genius den natürlichen Boden. Auch seine kleineren Gedichte verweilten mit Vorliebe bei den Anfängen des Staatslebens, veranschaulichten in mannichfachen geistvollen Wendungen, wie der heilige Zwang des Rechts die friedlosen Menschen menschlich an- einander bindet, wie die rohen Seelen zerfließen in der Menschlichkeit erstem Gefühl. Schöner als in dem Liede von der Glocke ist die Ver- kettung des einfachen Menschenlebens mit den großen völkererhaltenden Mächten des Staates und der Gesellschaft niemals geschildert worden.
Wie tief er auch seine "prosaische" Zeit verachtete, wie stolz er auch jeden Versuch tendenziöser Dichtung von sich wies, dieser ganz auf die historische Welt gerichtete Geist war doch erfüllt von einem hohen politischen Pathos, das erst die Nachlebenden völlig begreifen sollten. Es war kein Zufall, daß er sich so lange mit dem Gedanken trug, die Thaten Friedrichs in einem Epos zu besingen. Als die Deutschen selbst zur Befreiung ihres Landes sich rüsteten, da ward ihnen erst das farbenglühende Bild der Volkserhebung in der Jungfrau von Orleans recht verständlich; als sie unter dem Drucke der Fremdherrschaft sich wieder auf sich selber be- sannen, da würdigten sie erst ganz die Größe des Dichters, der ihnen in seinen beiden schönsten Dramen die vaterländische Geschichte so menschlich nahe gebracht hatte. Die entsetzlichste Zeit unserer Vergangenheit gewann durch seine Dichtung ein so frisches, freudiges Leben, daß der Deutsche sich noch heute im Lager Wallensteins fast heimischer fühlt als unter fridericianischen Soldaten; aus den Kämpfen der handfesten deutschen
Schillers Dramen.
auf die bildungsſtolzen Zeitgenoſſen geringen Eindruck. Aber mit Ent- zücken erkannten ſie ſich ſelber wieder in den Geſtalten des Wilhelm Meiſter: in dieſen ſtaatloſen Menſchen ohne Vaterland, ohne Familie, ohne Beruf, die von aller Gebundenheit des hiſtoriſchen Daſeins frei, nur einen Lebensinhalt kennen: den leidenſchaftlichen Drang nach menſchlicher Bildung. In dieſer Odyſſee der Bildung hielt Goethe ſeinem Zeitalter einen Spiegel vor, der alle Züge jener literariſchen Epoche, ihre Schwächen wie ihre Lebensfülle, in wunderbarer Klarheit wiedergab, und löſte zu- gleich, was noch keinem Poeten ganz gelungen war, die höchſte Aufgabe des Romandichters: er zeigte, wie das Leben den ſtrebenden und irrenden Menſchen erzieht.
Minder vielſeitig, aber raſtlos mit ſeinem Pfunde wuchernd errang ſich Schiller indeſſen die Herrſchaft auf der deutſchen Bühne. Die ge- waltſame dramatiſche Aufregung, welche Goethe gern von ſich fern hielt, war ihm Bedürfniß; glänzende Bilder von Kampf und Sieg ſchritten durch ſeine Träume, das Schmettern der Trompeten, das Rauſchen der Fahnen und der Klang der Schwerter verfolgten ihn noch bis auf ſein Todesbette. Die Leidenſchaften des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um der Menſchheit große Gegenſtände, um Herrſchaft und um Freiheit, jene mächtigen Schickſalswandlungen, die über Völkerleid und Völkergröße ent- ſcheiden, boten ſeinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boden. Auch ſeine kleineren Gedichte verweilten mit Vorliebe bei den Anfängen des Staatslebens, veranſchaulichten in mannichfachen geiſtvollen Wendungen, wie der heilige Zwang des Rechts die friedloſen Menſchen menſchlich an- einander bindet, wie die rohen Seelen zerfließen in der Menſchlichkeit erſtem Gefühl. Schöner als in dem Liede von der Glocke iſt die Ver- kettung des einfachen Menſchenlebens mit den großen völkererhaltenden Mächten des Staates und der Geſellſchaft niemals geſchildert worden.
Wie tief er auch ſeine „proſaiſche“ Zeit verachtete, wie ſtolz er auch jeden Verſuch tendenziöſer Dichtung von ſich wies, dieſer ganz auf die hiſtoriſche Welt gerichtete Geiſt war doch erfüllt von einem hohen politiſchen Pathos, das erſt die Nachlebenden völlig begreifen ſollten. Es war kein Zufall, daß er ſich ſo lange mit dem Gedanken trug, die Thaten Friedrichs in einem Epos zu beſingen. Als die Deutſchen ſelbſt zur Befreiung ihres Landes ſich rüſteten, da ward ihnen erſt das farbenglühende Bild der Volkserhebung in der Jungfrau von Orleans recht verſtändlich; als ſie unter dem Drucke der Fremdherrſchaft ſich wieder auf ſich ſelber be- ſannen, da würdigten ſie erſt ganz die Größe des Dichters, der ihnen in ſeinen beiden ſchönſten Dramen die vaterländiſche Geſchichte ſo menſchlich nahe gebracht hatte. Die entſetzlichſte Zeit unſerer Vergangenheit gewann durch ſeine Dichtung ein ſo friſches, freudiges Leben, daß der Deutſche ſich noch heute im Lager Wallenſteins faſt heimiſcher fühlt als unter fridericianiſchen Soldaten; aus den Kämpfen der handfeſten deutſchen
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Schillers Dramen.
auf die bildungsſtolzen Zeitgenoſſen geringen Eindruck. Aber mit Ent-
zücken erkannten ſie ſich ſelber wieder in den Geſtalten des Wilhelm
Meiſter: in dieſen ſtaatloſen Menſchen ohne Vaterland, ohne Familie,
ohne Beruf, die von aller Gebundenheit des hiſtoriſchen Daſeins frei, nur
einen Lebensinhalt kennen: den leidenſchaftlichen Drang nach menſchlicher
Bildung. In dieſer Odyſſee der Bildung hielt Goethe ſeinem Zeitalter
einen Spiegel vor, der alle Züge jener literariſchen Epoche, ihre Schwächen
wie ihre Lebensfülle, in wunderbarer Klarheit wiedergab, und löſte zu-
gleich, was noch keinem Poeten ganz gelungen war, die höchſte Aufgabe
des Romandichters: er zeigte, wie das Leben den ſtrebenden und irrenden
Menſchen erzieht.
Minder vielſeitig, aber raſtlos mit ſeinem Pfunde wuchernd errang
ſich Schiller indeſſen die Herrſchaft auf der deutſchen Bühne. Die ge-
waltſame dramatiſche Aufregung, welche Goethe gern von ſich fern hielt,
war ihm Bedürfniß; glänzende Bilder von Kampf und Sieg ſchritten
durch ſeine Träume, das Schmettern der Trompeten, das Rauſchen der
Fahnen und der Klang der Schwerter verfolgten ihn noch bis auf ſein
Todesbette. Die Leidenſchaften des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um
der Menſchheit große Gegenſtände, um Herrſchaft und um Freiheit, jene
mächtigen Schickſalswandlungen, die über Völkerleid und Völkergröße ent-
ſcheiden, boten ſeinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boden. Auch
ſeine kleineren Gedichte verweilten mit Vorliebe bei den Anfängen des
Staatslebens, veranſchaulichten in mannichfachen geiſtvollen Wendungen,
wie der heilige Zwang des Rechts die friedloſen Menſchen menſchlich an-
einander bindet, wie die rohen Seelen zerfließen in der Menſchlichkeit
erſtem Gefühl. Schöner als in dem Liede von der Glocke iſt die Ver-
kettung des einfachen Menſchenlebens mit den großen völkererhaltenden
Mächten des Staates und der Geſellſchaft niemals geſchildert worden.
Wie tief er auch ſeine „proſaiſche“ Zeit verachtete, wie ſtolz er auch jeden
Verſuch tendenziöſer Dichtung von ſich wies, dieſer ganz auf die hiſtoriſche
Welt gerichtete Geiſt war doch erfüllt von einem hohen politiſchen Pathos,
das erſt die Nachlebenden völlig begreifen ſollten. Es war kein Zufall,
daß er ſich ſo lange mit dem Gedanken trug, die Thaten Friedrichs in
einem Epos zu beſingen. Als die Deutſchen ſelbſt zur Befreiung ihres
Landes ſich rüſteten, da ward ihnen erſt das farbenglühende Bild der
Volkserhebung in der Jungfrau von Orleans recht verſtändlich; als ſie
unter dem Drucke der Fremdherrſchaft ſich wieder auf ſich ſelber be-
ſannen, da würdigten ſie erſt ganz die Größe des Dichters, der ihnen in
ſeinen beiden ſchönſten Dramen die vaterländiſche Geſchichte ſo menſchlich
nahe gebracht hatte. Die entſetzlichſte Zeit unſerer Vergangenheit gewann
durch ſeine Dichtung ein ſo friſches, freudiges Leben, daß der Deutſche
ſich noch heute im Lager Wallenſteins faſt heimiſcher fühlt als unter
fridericianiſchen Soldaten; aus den Kämpfen der handfeſten deutſchen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/217>, abgerufen am 24.11.2024.
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