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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Volksstimmung während der Fürstenrevolution.
der beiden großen Nationen Mitteleuropas, sollte noch Fleisch und Blut
gewinnen. In diese Zeiten der Erfüllung trat Deutschland ein, als der
theokratische Staatsbau seines Mittelalters zusammenstürzte und also das
politische Testament des sechzehnten Jahrhunderts endlich vollstreckt wurde.

Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen
Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot das
deutsche Reich den trostlosen Anblik der Zerstörung; kein Seher ahnte,
welches junge Leben dereinst aus diesen Trümmern erblühen sollte. Nur
das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe bevorstand.
Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bonaparte von
vornherein beabsichtigte die deutschen Dinge im Fluß zu halten. Seit
dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutschen
Fürstenstandes alle Schranken; sie ergriff die Glückskinder des Bona-
partismus wie ein epidemischer Wahnsinn und bestimmte während des
nächsten Jahrzehntes die gesammte Politik der neuen Mittelstaaten. Die
Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieser unruhigen monarchischen
Welt sich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes-
genossen am linken Rheinufer sowie durch die Aufhebung der Domcapitel
hatten sie den Boden unter den Füßen verloren und waren selber nur
darum vorläufig verschont geblieben, weil die französische Politik sich noch
nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzusetzen. Der Reichsdepu-
tationshauptschluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere
Fürsten die benachbarte Reichsritterschaft gewaltsam zu mediatisiren, wie
der modische Ausdruck lautete. Der Kaiser nahm sich in Regensburg
seiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei
der Fürsten, und unterdessen ward ein Reichsritter nach dem andern von
den gierigen Nachbarn gebändigt.

Die Haltung des neuen Reichstags unterschied sich in nichts von dem
alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der seine
formlose Gestalt nicht ändere und wenn er noch so viel heruntergeschlungen
habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch die her-
gebrachte reichspatriotische Phrase in die neue Zeit mit hinüber. Der
Gesandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der neuen
Kurfürsten mit dem pomphaften Gruße: "das alte ehrwürdige Reichs-
gebäude, das seinem gänzlichen Untergange so nahe schien, wird heute
durch vier neue Hauptpfeiler unterstützt." Aber Niemand theilte die Zu-
versicht des ewig begeisterten flachen Leichtsinns. Dumpf, leer und träge
schleppten sich die Verhandlungen dahin; keiner der Gesandten wagte auch
nur die Frage aufzuwerfen, ob das in seinen Grundlagen veränderte Reich
noch die alte Verfassung behalten könne. Jedermann fühlte, daß in Wahr-
heit schon Alles vorüber war, und sah mit verschränkten Armen die Stunde
nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete.

Im Volke blieb Alles still. Keine Hand erhob sich zum Widerstande

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 13

Volksſtimmung während der Fürſtenrevolution.
der beiden großen Nationen Mitteleuropas, ſollte noch Fleiſch und Blut
gewinnen. In dieſe Zeiten der Erfüllung trat Deutſchland ein, als der
theokratiſche Staatsbau ſeines Mittelalters zuſammenſtürzte und alſo das
politiſche Teſtament des ſechzehnten Jahrhunderts endlich vollſtreckt wurde.

Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen
Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot das
deutſche Reich den troſtloſen Anblik der Zerſtörung; kein Seher ahnte,
welches junge Leben dereinſt aus dieſen Trümmern erblühen ſollte. Nur
das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe bevorſtand.
Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bonaparte von
vornherein beabſichtigte die deutſchen Dinge im Fluß zu halten. Seit
dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutſchen
Fürſtenſtandes alle Schranken; ſie ergriff die Glückskinder des Bona-
partismus wie ein epidemiſcher Wahnſinn und beſtimmte während des
nächſten Jahrzehntes die geſammte Politik der neuen Mittelſtaaten. Die
Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieſer unruhigen monarchiſchen
Welt ſich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes-
genoſſen am linken Rheinufer ſowie durch die Aufhebung der Domcapitel
hatten ſie den Boden unter den Füßen verloren und waren ſelber nur
darum vorläufig verſchont geblieben, weil die franzöſiſche Politik ſich noch
nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzuſetzen. Der Reichsdepu-
tationshauptſchluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere
Fürſten die benachbarte Reichsritterſchaft gewaltſam zu mediatiſiren, wie
der modiſche Ausdruck lautete. Der Kaiſer nahm ſich in Regensburg
ſeiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei
der Fürſten, und unterdeſſen ward ein Reichsritter nach dem andern von
den gierigen Nachbarn gebändigt.

Die Haltung des neuen Reichstags unterſchied ſich in nichts von dem
alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der ſeine
formloſe Geſtalt nicht ändere und wenn er noch ſo viel heruntergeſchlungen
habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch die her-
gebrachte reichspatriotiſche Phraſe in die neue Zeit mit hinüber. Der
Geſandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der neuen
Kurfürſten mit dem pomphaften Gruße: „das alte ehrwürdige Reichs-
gebäude, das ſeinem gänzlichen Untergange ſo nahe ſchien, wird heute
durch vier neue Hauptpfeiler unterſtützt.“ Aber Niemand theilte die Zu-
verſicht des ewig begeiſterten flachen Leichtſinns. Dumpf, leer und träge
ſchleppten ſich die Verhandlungen dahin; keiner der Geſandten wagte auch
nur die Frage aufzuwerfen, ob das in ſeinen Grundlagen veränderte Reich
noch die alte Verfaſſung behalten könne. Jedermann fühlte, daß in Wahr-
heit ſchon Alles vorüber war, und ſah mit verſchränkten Armen die Stunde
nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete.

Im Volke blieb Alles ſtill. Keine Hand erhob ſich zum Widerſtande

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[193/0209] Volksſtimmung während der Fürſtenrevolution. der beiden großen Nationen Mitteleuropas, ſollte noch Fleiſch und Blut gewinnen. In dieſe Zeiten der Erfüllung trat Deutſchland ein, als der theokratiſche Staatsbau ſeines Mittelalters zuſammenſtürzte und alſo das politiſche Teſtament des ſechzehnten Jahrhunderts endlich vollſtreckt wurde. Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot das deutſche Reich den troſtloſen Anblik der Zerſtörung; kein Seher ahnte, welches junge Leben dereinſt aus dieſen Trümmern erblühen ſollte. Nur das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe bevorſtand. Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bonaparte von vornherein beabſichtigte die deutſchen Dinge im Fluß zu halten. Seit dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutſchen Fürſtenſtandes alle Schranken; ſie ergriff die Glückskinder des Bona- partismus wie ein epidemiſcher Wahnſinn und beſtimmte während des nächſten Jahrzehntes die geſammte Politik der neuen Mittelſtaaten. Die Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieſer unruhigen monarchiſchen Welt ſich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes- genoſſen am linken Rheinufer ſowie durch die Aufhebung der Domcapitel hatten ſie den Boden unter den Füßen verloren und waren ſelber nur darum vorläufig verſchont geblieben, weil die franzöſiſche Politik ſich noch nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzuſetzen. Der Reichsdepu- tationshauptſchluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere Fürſten die benachbarte Reichsritterſchaft gewaltſam zu mediatiſiren, wie der modiſche Ausdruck lautete. Der Kaiſer nahm ſich in Regensburg ſeiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei der Fürſten, und unterdeſſen ward ein Reichsritter nach dem andern von den gierigen Nachbarn gebändigt. Die Haltung des neuen Reichstags unterſchied ſich in nichts von dem alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der ſeine formloſe Geſtalt nicht ändere und wenn er noch ſo viel heruntergeſchlungen habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch die her- gebrachte reichspatriotiſche Phraſe in die neue Zeit mit hinüber. Der Geſandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der neuen Kurfürſten mit dem pomphaften Gruße: „das alte ehrwürdige Reichs- gebäude, das ſeinem gänzlichen Untergange ſo nahe ſchien, wird heute durch vier neue Hauptpfeiler unterſtützt.“ Aber Niemand theilte die Zu- verſicht des ewig begeiſterten flachen Leichtſinns. Dumpf, leer und träge ſchleppten ſich die Verhandlungen dahin; keiner der Geſandten wagte auch nur die Frage aufzuwerfen, ob das in ſeinen Grundlagen veränderte Reich noch die alte Verfaſſung behalten könne. Jedermann fühlte, daß in Wahr- heit ſchon Alles vorüber war, und ſah mit verſchränkten Armen die Stunde nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete. Im Volke blieb Alles ſtill. Keine Hand erhob ſich zum Widerſtande Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 13

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/209>, abgerufen am 24.11.2024.