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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Der Reichsdeputationshauptschluß.
Germanique. Dies lockere Nebeneinander weltlicher Fürstenthümer wurde
vorderhand fast allein durch den Namen Deutschland zusammengehalten,
und in der nächsten Zukunft ließ sich eher die Auflösung des deutschen
Gemeinwesens als seine foederative Neugestaltung erwarten. Aber mit
den theokratischen Formen war auch jener Geist der starren Unbeweglich-
keit entschwunden, der bisher die politischen Kräfte der Nation gebunden
hielt. Das neue weltliche Deutschland war der Bewegung, der Entwicklung
fähig; und gelang dereinst die Befreiung von der Vormundschaft des Aus-
lands, so konnte sich auf dem Boden des weltlichen Territorialismus
vielleicht ein nationaler Gesammtstaat bilden, der minder verlogen war
als das heilige Reich.

Durch die Secularisationen wurde auch jene künstliche Stimmen-
vertheilung beseitigt, welche dem Katholicismus bisher ein unbilliges Ueber-
gewicht in der Reichsversammlung verschafft hatte. Die Mehrheit des
Reichstags war nunmehr evangelisch, wie die Mehrheit der deutschen
Nation außerhalb Oesterreichs. In den Kurfürstenrath traten für Köln
und Trier die neuen Kurfürsten von Salzburg, Württemberg, Baden und
Hessen ein; er zählte sechs protestantische Stimmen unter zehn. Die noch
übrigen Mitglieder des Collegiums der Reichsstädte waren, bis auf das
paritätische Augsburg, allesammt protestantisch. Im Fürstenrathe ver-
blieben noch dreiundfünfzig evangelische neben neunundzwanzig katholischen
Ständen. Als die neuen Herren der secularisirten Lande, dem Reichs-
rechte gemäß, auch die Stimmen der entthronten Stände für sich be-
anspruchten, da entspann sich der letzte große Streit im Schooße der
Regensburger Versammlung. Sein Verlauf bekundete den starken Um-
schwung der Meinungen wie die radikale Veränderung der alten Macht-
verhältnisse im Reiche. Einst hatten die Protestanten durch den Sonder-
bund des Corpus Evangelicorum sich decken müssen gegen die Uebergriffe
der katholischen Mehrheit; jetzt berief sich der Kaiser im Namen der Katho-
liken auf den Grundsatz der Parität und forderte für seine Glaubens-
genossen so viele neue Stimmen, bis die Gleichheit hergestellt sei. Doch
die Zeitgenossen Kants waren der Gehässigkeit der Religionskriege ent-
wachsen. Die große Mehrheit des Reichstags, Preußen und Baiern voran,
wollte nicht zugeben, daß das Wesen der Parität in der Gleichheit der
Kopfzahl zu suchen sei; ja man sprach es offen aus, der alte Unterschied
von katholischen und protestantischen Stimmen habe seinen Sinn ver-
loren, wenn nur erst in jedem deutschen Staate "ein vernünftiges Tole-
ranzsystem" bestünde. Kaiser Franz hingegen dachte die Macht der öster-
reichischen Partei um jeden Preis wiederherzustellen; er gebrauchte, der
Verfassung zuwider, zum letzten male das höchste Recht der kaiserlichen
Majestät, er legte sein Veto ein, und der Streit blieb ungeschlichtet bis
das Reich sich förmlich auflöste. Ein parteiischer Mißbrauch der Rechte
der Krone zum Besten des Hauses Oesterreich und der katholischen Partei

Der Reichsdeputationshauptſchluß.
Germanique. Dies lockere Nebeneinander weltlicher Fürſtenthümer wurde
vorderhand faſt allein durch den Namen Deutſchland zuſammengehalten,
und in der nächſten Zukunft ließ ſich eher die Auflöſung des deutſchen
Gemeinweſens als ſeine foederative Neugeſtaltung erwarten. Aber mit
den theokratiſchen Formen war auch jener Geiſt der ſtarren Unbeweglich-
keit entſchwunden, der bisher die politiſchen Kräfte der Nation gebunden
hielt. Das neue weltliche Deutſchland war der Bewegung, der Entwicklung
fähig; und gelang dereinſt die Befreiung von der Vormundſchaft des Aus-
lands, ſo konnte ſich auf dem Boden des weltlichen Territorialismus
vielleicht ein nationaler Geſammtſtaat bilden, der minder verlogen war
als das heilige Reich.

Durch die Seculariſationen wurde auch jene künſtliche Stimmen-
vertheilung beſeitigt, welche dem Katholicismus bisher ein unbilliges Ueber-
gewicht in der Reichsverſammlung verſchafft hatte. Die Mehrheit des
Reichstags war nunmehr evangeliſch, wie die Mehrheit der deutſchen
Nation außerhalb Oeſterreichs. In den Kurfürſtenrath traten für Köln
und Trier die neuen Kurfürſten von Salzburg, Württemberg, Baden und
Heſſen ein; er zählte ſechs proteſtantiſche Stimmen unter zehn. Die noch
übrigen Mitglieder des Collegiums der Reichsſtädte waren, bis auf das
paritätiſche Augsburg, alleſammt proteſtantiſch. Im Fürſtenrathe ver-
blieben noch dreiundfünfzig evangeliſche neben neunundzwanzig katholiſchen
Ständen. Als die neuen Herren der ſeculariſirten Lande, dem Reichs-
rechte gemäß, auch die Stimmen der entthronten Stände für ſich be-
anſpruchten, da entſpann ſich der letzte große Streit im Schooße der
Regensburger Verſammlung. Sein Verlauf bekundete den ſtarken Um-
ſchwung der Meinungen wie die radikale Veränderung der alten Macht-
verhältniſſe im Reiche. Einſt hatten die Proteſtanten durch den Sonder-
bund des Corpus Evangelicorum ſich decken müſſen gegen die Uebergriffe
der katholiſchen Mehrheit; jetzt berief ſich der Kaiſer im Namen der Katho-
liken auf den Grundſatz der Parität und forderte für ſeine Glaubens-
genoſſen ſo viele neue Stimmen, bis die Gleichheit hergeſtellt ſei. Doch
die Zeitgenoſſen Kants waren der Gehäſſigkeit der Religionskriege ent-
wachſen. Die große Mehrheit des Reichstags, Preußen und Baiern voran,
wollte nicht zugeben, daß das Weſen der Parität in der Gleichheit der
Kopfzahl zu ſuchen ſei; ja man ſprach es offen aus, der alte Unterſchied
von katholiſchen und proteſtantiſchen Stimmen habe ſeinen Sinn ver-
loren, wenn nur erſt in jedem deutſchen Staate „ein vernünftiges Tole-
ranzſyſtem“ beſtünde. Kaiſer Franz hingegen dachte die Macht der öſter-
reichiſchen Partei um jeden Preis wiederherzuſtellen; er gebrauchte, der
Verfaſſung zuwider, zum letzten male das höchſte Recht der kaiſerlichen
Majeſtät, er legte ſein Veto ein, und der Streit blieb ungeſchlichtet bis
das Reich ſich förmlich auflöſte. Ein parteiiſcher Mißbrauch der Rechte
der Krone zum Beſten des Hauſes Oeſterreich und der katholiſchen Partei

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[187/0203] Der Reichsdeputationshauptſchluß. Germanique. Dies lockere Nebeneinander weltlicher Fürſtenthümer wurde vorderhand faſt allein durch den Namen Deutſchland zuſammengehalten, und in der nächſten Zukunft ließ ſich eher die Auflöſung des deutſchen Gemeinweſens als ſeine foederative Neugeſtaltung erwarten. Aber mit den theokratiſchen Formen war auch jener Geiſt der ſtarren Unbeweglich- keit entſchwunden, der bisher die politiſchen Kräfte der Nation gebunden hielt. Das neue weltliche Deutſchland war der Bewegung, der Entwicklung fähig; und gelang dereinſt die Befreiung von der Vormundſchaft des Aus- lands, ſo konnte ſich auf dem Boden des weltlichen Territorialismus vielleicht ein nationaler Geſammtſtaat bilden, der minder verlogen war als das heilige Reich. Durch die Seculariſationen wurde auch jene künſtliche Stimmen- vertheilung beſeitigt, welche dem Katholicismus bisher ein unbilliges Ueber- gewicht in der Reichsverſammlung verſchafft hatte. Die Mehrheit des Reichstags war nunmehr evangeliſch, wie die Mehrheit der deutſchen Nation außerhalb Oeſterreichs. In den Kurfürſtenrath traten für Köln und Trier die neuen Kurfürſten von Salzburg, Württemberg, Baden und Heſſen ein; er zählte ſechs proteſtantiſche Stimmen unter zehn. Die noch übrigen Mitglieder des Collegiums der Reichsſtädte waren, bis auf das paritätiſche Augsburg, alleſammt proteſtantiſch. Im Fürſtenrathe ver- blieben noch dreiundfünfzig evangeliſche neben neunundzwanzig katholiſchen Ständen. Als die neuen Herren der ſeculariſirten Lande, dem Reichs- rechte gemäß, auch die Stimmen der entthronten Stände für ſich be- anſpruchten, da entſpann ſich der letzte große Streit im Schooße der Regensburger Verſammlung. Sein Verlauf bekundete den ſtarken Um- ſchwung der Meinungen wie die radikale Veränderung der alten Macht- verhältniſſe im Reiche. Einſt hatten die Proteſtanten durch den Sonder- bund des Corpus Evangelicorum ſich decken müſſen gegen die Uebergriffe der katholiſchen Mehrheit; jetzt berief ſich der Kaiſer im Namen der Katho- liken auf den Grundſatz der Parität und forderte für ſeine Glaubens- genoſſen ſo viele neue Stimmen, bis die Gleichheit hergeſtellt ſei. Doch die Zeitgenoſſen Kants waren der Gehäſſigkeit der Religionskriege ent- wachſen. Die große Mehrheit des Reichstags, Preußen und Baiern voran, wollte nicht zugeben, daß das Weſen der Parität in der Gleichheit der Kopfzahl zu ſuchen ſei; ja man ſprach es offen aus, der alte Unterſchied von katholiſchen und proteſtantiſchen Stimmen habe ſeinen Sinn ver- loren, wenn nur erſt in jedem deutſchen Staate „ein vernünftiges Tole- ranzſyſtem“ beſtünde. Kaiſer Franz hingegen dachte die Macht der öſter- reichiſchen Partei um jeden Preis wiederherzuſtellen; er gebrauchte, der Verfaſſung zuwider, zum letzten male das höchſte Recht der kaiſerlichen Majeſtät, er legte ſein Veto ein, und der Streit blieb ungeſchlichtet bis das Reich ſich förmlich auflöſte. Ein parteiiſcher Mißbrauch der Rechte der Krone zum Beſten des Hauſes Oeſterreich und der katholiſchen Partei

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/203>, abgerufen am 21.11.2024.