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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
der Selbsttäuschung wußte die dreiste Gewissenlosigkeit des neuen Münchener
Hofes ihren Vortheil wahrzunehmen. Dort war soeben das Haus Pfalz-
Zweibrücken auf den Thron gelangt, den ihm Oesterreichs Habgier so oft
bestritten hatte. Der leitende Minister Graf Montgelas verkannte keinen
Augenblick, daß die junge Dynastie von der Hofburg Alles zu fürchten,
von Bonaparte Alles zu hoffen habe. Rasch entschlossen trat er bald nach
dem Frieden an die Spitze der französischen Partei in Deutschland und
empfing dafür die herablassende Zusicherung des ersten Consuls: Frank-
reichs Größe und Edelmuth wolle die früheren Schwankungen des bairischen
Hofes vergessen. Der scrupellose Realist sah in Baierns Vorzeit nur eine
Geschichte der versäumten Gelegenheiten; jetzt endlich da die Welt aus den
Fugen ging galt es das Glück an der Locke zu fassen, dem Siegeszuge
des Welteroberers sich anzuschließen, durch treuen Vasallendienst und un-
ablässiges Feilschen so viel Beute zu erhaschen als des Herrschers Gnade
bewilligen mochte. Was irgend an das Reich, an den tausendjährigen
Verband der deutschen Nation erinnerte, erschien dieser Politik des folge-
rechten Particularismus lächerlich; alle Scham, alle Pietät, alles Rechts-
gefühl war ihr fremd. Begierig griff sie den Gedanken einer deutschen
Trias auf, der einst nach dem Hubertusburger Frieden zuerst hervor-
getreten und neuerdings wieder in Schwang gekommen war, als Preußen
die süddeutschen Kleinstaaten verließ, Oesterreich sie bedrohte. Der nassauische
Minister Gagern, ein wohlmeinender Reichspatriot, nach der dilettantischen
Weise der kleinstaatlichen Diplomaten immer rasch bei der Hand mit
leichtfertigen, unklaren Projecten, hatte schon zur Zeit des Vertrags von
Campo Formio dem kaiserlichen Hofe arglos die Bildung eines Bundes
der kleinen Höfe unter russischer Garantie angerathen; in gleichem Sinne
schrieb der ehrliche schwäbische Publicist Pahl eine Appellation an den
Luneviller Friedenscongreß. Wenn aber jetzt die Federn des pfalzbairischen
Lagers einen Sonderbund aller Mindermächtigen ohne Oesterreich und
Preußen empfahlen, so wollten sie nicht, wie jene redlichen Phantasten,
dem deutschen Süden die nationale Unabhängigkeit retten. Ihre Absicht
war: die Unterwerfung der Mittelstaaten unter Frankreichs Willkür, die
Vernichtung Deutschlands. Vorläufig, so lange man noch die österreichische
Partei zu bekämpfen hatte, blieb die Dynastie Zweibrücken mit ihrem alten
Beschützer Preußen in gutem Vernehmen. Bonaparte ließ sie gewähren;
er wußte, wie leicht diese Freundschaft zu trennen sei, lagen doch die
fränkischen Markgrafschaften des Königs von Preußen der bairischen Be-
gehrlichkeit dicht vor der Thür.

Während der schwersten Krisis, welche je den alten deutschen Staat
erschüttert hat, verscherzte sich Oesterreich jeden Einfluß durch eine starr-
sinnige Politik, die einen unhaltbaren Zustand zu retten suchte; der preu-
ßische Hof verkannte nicht die Nothwendigkeit des Umsturzes, doch er hatte
für den Neubau des Reichs nur unbestimmte, schwächliche Wünsche und

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
der Selbſttäuſchung wußte die dreiſte Gewiſſenloſigkeit des neuen Münchener
Hofes ihren Vortheil wahrzunehmen. Dort war ſoeben das Haus Pfalz-
Zweibrücken auf den Thron gelangt, den ihm Oeſterreichs Habgier ſo oft
beſtritten hatte. Der leitende Miniſter Graf Montgelas verkannte keinen
Augenblick, daß die junge Dynaſtie von der Hofburg Alles zu fürchten,
von Bonaparte Alles zu hoffen habe. Raſch entſchloſſen trat er bald nach
dem Frieden an die Spitze der franzöſiſchen Partei in Deutſchland und
empfing dafür die herablaſſende Zuſicherung des erſten Conſuls: Frank-
reichs Größe und Edelmuth wolle die früheren Schwankungen des bairiſchen
Hofes vergeſſen. Der ſcrupelloſe Realiſt ſah in Baierns Vorzeit nur eine
Geſchichte der verſäumten Gelegenheiten; jetzt endlich da die Welt aus den
Fugen ging galt es das Glück an der Locke zu faſſen, dem Siegeszuge
des Welteroberers ſich anzuſchließen, durch treuen Vaſallendienſt und un-
abläſſiges Feilſchen ſo viel Beute zu erhaſchen als des Herrſchers Gnade
bewilligen mochte. Was irgend an das Reich, an den tauſendjährigen
Verband der deutſchen Nation erinnerte, erſchien dieſer Politik des folge-
rechten Particularismus lächerlich; alle Scham, alle Pietät, alles Rechts-
gefühl war ihr fremd. Begierig griff ſie den Gedanken einer deutſchen
Trias auf, der einſt nach dem Hubertusburger Frieden zuerſt hervor-
getreten und neuerdings wieder in Schwang gekommen war, als Preußen
die ſüddeutſchen Kleinſtaaten verließ, Oeſterreich ſie bedrohte. Der naſſauiſche
Miniſter Gagern, ein wohlmeinender Reichspatriot, nach der dilettantiſchen
Weiſe der kleinſtaatlichen Diplomaten immer raſch bei der Hand mit
leichtfertigen, unklaren Projecten, hatte ſchon zur Zeit des Vertrags von
Campo Formio dem kaiſerlichen Hofe arglos die Bildung eines Bundes
der kleinen Höfe unter ruſſiſcher Garantie angerathen; in gleichem Sinne
ſchrieb der ehrliche ſchwäbiſche Publiciſt Pahl eine Appellation an den
Luneviller Friedenscongreß. Wenn aber jetzt die Federn des pfalzbairiſchen
Lagers einen Sonderbund aller Mindermächtigen ohne Oeſterreich und
Preußen empfahlen, ſo wollten ſie nicht, wie jene redlichen Phantaſten,
dem deutſchen Süden die nationale Unabhängigkeit retten. Ihre Abſicht
war: die Unterwerfung der Mittelſtaaten unter Frankreichs Willkür, die
Vernichtung Deutſchlands. Vorläufig, ſo lange man noch die öſterreichiſche
Partei zu bekämpfen hatte, blieb die Dynaſtie Zweibrücken mit ihrem alten
Beſchützer Preußen in gutem Vernehmen. Bonaparte ließ ſie gewähren;
er wußte, wie leicht dieſe Freundſchaft zu trennen ſei, lagen doch die
fränkiſchen Markgrafſchaften des Königs von Preußen der bairiſchen Be-
gehrlichkeit dicht vor der Thür.

Während der ſchwerſten Kriſis, welche je den alten deutſchen Staat
erſchüttert hat, verſcherzte ſich Oeſterreich jeden Einfluß durch eine ſtarr-
ſinnige Politik, die einen unhaltbaren Zuſtand zu retten ſuchte; der preu-
ßiſche Hof verkannte nicht die Nothwendigkeit des Umſturzes, doch er hatte
für den Neubau des Reichs nur unbeſtimmte, ſchwächliche Wünſche und

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[182/0198] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. der Selbſttäuſchung wußte die dreiſte Gewiſſenloſigkeit des neuen Münchener Hofes ihren Vortheil wahrzunehmen. Dort war ſoeben das Haus Pfalz- Zweibrücken auf den Thron gelangt, den ihm Oeſterreichs Habgier ſo oft beſtritten hatte. Der leitende Miniſter Graf Montgelas verkannte keinen Augenblick, daß die junge Dynaſtie von der Hofburg Alles zu fürchten, von Bonaparte Alles zu hoffen habe. Raſch entſchloſſen trat er bald nach dem Frieden an die Spitze der franzöſiſchen Partei in Deutſchland und empfing dafür die herablaſſende Zuſicherung des erſten Conſuls: Frank- reichs Größe und Edelmuth wolle die früheren Schwankungen des bairiſchen Hofes vergeſſen. Der ſcrupelloſe Realiſt ſah in Baierns Vorzeit nur eine Geſchichte der verſäumten Gelegenheiten; jetzt endlich da die Welt aus den Fugen ging galt es das Glück an der Locke zu faſſen, dem Siegeszuge des Welteroberers ſich anzuſchließen, durch treuen Vaſallendienſt und un- abläſſiges Feilſchen ſo viel Beute zu erhaſchen als des Herrſchers Gnade bewilligen mochte. Was irgend an das Reich, an den tauſendjährigen Verband der deutſchen Nation erinnerte, erſchien dieſer Politik des folge- rechten Particularismus lächerlich; alle Scham, alle Pietät, alles Rechts- gefühl war ihr fremd. Begierig griff ſie den Gedanken einer deutſchen Trias auf, der einſt nach dem Hubertusburger Frieden zuerſt hervor- getreten und neuerdings wieder in Schwang gekommen war, als Preußen die ſüddeutſchen Kleinſtaaten verließ, Oeſterreich ſie bedrohte. Der naſſauiſche Miniſter Gagern, ein wohlmeinender Reichspatriot, nach der dilettantiſchen Weiſe der kleinſtaatlichen Diplomaten immer raſch bei der Hand mit leichtfertigen, unklaren Projecten, hatte ſchon zur Zeit des Vertrags von Campo Formio dem kaiſerlichen Hofe arglos die Bildung eines Bundes der kleinen Höfe unter ruſſiſcher Garantie angerathen; in gleichem Sinne ſchrieb der ehrliche ſchwäbiſche Publiciſt Pahl eine Appellation an den Luneviller Friedenscongreß. Wenn aber jetzt die Federn des pfalzbairiſchen Lagers einen Sonderbund aller Mindermächtigen ohne Oeſterreich und Preußen empfahlen, ſo wollten ſie nicht, wie jene redlichen Phantaſten, dem deutſchen Süden die nationale Unabhängigkeit retten. Ihre Abſicht war: die Unterwerfung der Mittelſtaaten unter Frankreichs Willkür, die Vernichtung Deutſchlands. Vorläufig, ſo lange man noch die öſterreichiſche Partei zu bekämpfen hatte, blieb die Dynaſtie Zweibrücken mit ihrem alten Beſchützer Preußen in gutem Vernehmen. Bonaparte ließ ſie gewähren; er wußte, wie leicht dieſe Freundſchaft zu trennen ſei, lagen doch die fränkiſchen Markgrafſchaften des Königs von Preußen der bairiſchen Be- gehrlichkeit dicht vor der Thür. Während der ſchwerſten Kriſis, welche je den alten deutſchen Staat erſchüttert hat, verſcherzte ſich Oeſterreich jeden Einfluß durch eine ſtarr- ſinnige Politik, die einen unhaltbaren Zuſtand zu retten ſuchte; der preu- ßiſche Hof verkannte nicht die Nothwendigkeit des Umſturzes, doch er hatte für den Neubau des Reichs nur unbeſtimmte, ſchwächliche Wünſche und

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/198>, abgerufen am 24.11.2024.