Staate den Untergang bereitete; aber er hat auch, als er nach zehn Jahren des Zauderns und nach grausamen Schicksalsschlägen endlich wagte ganz er selber zu sein, aus freiem Entschlusse den Neubau des Staates in Angriff genommen, die Reformgedanken seiner Räthe genau so weit durch- geführt, wie es ihm richtig schien, und den lang vorbereiteten Befreiungs- krieg nicht eher gestattet, als bis er selber einsah, der rechte Augenblick sei gekommen. Er hat in der zweiten Hälfte seiner Regierung den An- schluß der preußischen Politik an Oesterreich, die Sünden der Demagogen- jagd und das Ausbleiben der verheißenen Verfassung verschuldet, aber auch die Neugründung des preußischen Einheitsstaates mit zäher Geduld geleitet und mit richtigem Blicke die gute Stunde erkannt, da die orien- talischen Wirren und die Kämpfe der deutschen Handelspolitik dem Staate erlaubten wieder selbständig seines Weges zu gehen. Ohne ihn und das allgemeine Zutrauen zu seiner Rechtschaffenheit war die Versöhnung der zahllosen landschaftlichen Gegensätze in dem neuen Preußen ebenso un- möglich wie die friedliche Entstehung jenes Zollvereins, der das nicht- österreichische Deutschland unauflöslich mit dem preußischen Staate ver- kettete und die Grenzpfähle aufrichtete für das neue deutsche Reich.
Dieser König konnte nicht, wie der erste Friedrich Wilhelm und sein Sohn, den Stempel seines eigenen Wesens dem Staate aufprägen, son- dern mußte die schöpferischen Gedanken von anderen, reicheren Geistern entlehnen. Und doch ist er der Herr geblieben; der monarchische Charakter des preußischen Staates hat sich, im Guten wie im Bösen, auch unter seiner Regierung nie verleugnet. In Noth und Schande, unter De- müthigungen, die einen freieren und kühneren Geist zur Verzweiflung bringen konnten, hat er unentwegt ausgehalten bei seiner Pflicht. So ist sein Name unzertrennlich verbunden mit den dunkelsten und den reinsten Erinnerungen unserer neuen Geschichte. Seine Pflichttreue und ein natür- liches Gefühl für die Ehre des Königthums gaben ihm die Kraft, allmäh- lich hineinzuwachsen in das Verständniß seiner Stellung. Nach und nach lernte er selbst solche Gebiete des nationalen Lebens schätzen, die seinem nüchternen hausbackenen Wesen ursprünglich fremd waren. Er lernte sich zurechtfinden in der auswärtigen Politik; und dieser prosaische Mensch, der in seinen jungen Jahren an der weinerlichen Plattheit Lafontaine'scher Romane Gefallen fand, ist schließlich der Mäcenas seines Hauses gewor- den, ein Beschützer der Künste und Wissenschaften wie kein Anderer unter den Hohenzollern. Wer ihn in seiner menschlichen Liebenswürdigkeit sehen wollte, der mußte ihn aufsuchen im einsamen Schlößchen zu Paretz. Dort unter den alten Bäumen am blauen Havelsee verlebte der junge Fürst seine glücklichsten Tage, an der Seite seiner lieblichen Gemahlin Luise, in dem munteren Kreise der schönen kleinen Flachsköpfe, die ihm heran- wuchsen; dort thaute er auf und brachte durch drollige Einfälle selbst die gestrenge Wächterin der Etikette, die Gräfin Voß zu respectwidrigem Lachen.
I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Staate den Untergang bereitete; aber er hat auch, als er nach zehn Jahren des Zauderns und nach grauſamen Schickſalsſchlägen endlich wagte ganz er ſelber zu ſein, aus freiem Entſchluſſe den Neubau des Staates in Angriff genommen, die Reformgedanken ſeiner Räthe genau ſo weit durch- geführt, wie es ihm richtig ſchien, und den lang vorbereiteten Befreiungs- krieg nicht eher geſtattet, als bis er ſelber einſah, der rechte Augenblick ſei gekommen. Er hat in der zweiten Hälfte ſeiner Regierung den An- ſchluß der preußiſchen Politik an Oeſterreich, die Sünden der Demagogen- jagd und das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſung verſchuldet, aber auch die Neugründung des preußiſchen Einheitsſtaates mit zäher Geduld geleitet und mit richtigem Blicke die gute Stunde erkannt, da die orien- taliſchen Wirren und die Kämpfe der deutſchen Handelspolitik dem Staate erlaubten wieder ſelbſtändig ſeines Weges zu gehen. Ohne ihn und das allgemeine Zutrauen zu ſeiner Rechtſchaffenheit war die Verſöhnung der zahlloſen landſchaftlichen Gegenſätze in dem neuen Preußen ebenſo un- möglich wie die friedliche Entſtehung jenes Zollvereins, der das nicht- öſterreichiſche Deutſchland unauflöslich mit dem preußiſchen Staate ver- kettete und die Grenzpfähle aufrichtete für das neue deutſche Reich.
Dieſer König konnte nicht, wie der erſte Friedrich Wilhelm und ſein Sohn, den Stempel ſeines eigenen Weſens dem Staate aufprägen, ſon- dern mußte die ſchöpferiſchen Gedanken von anderen, reicheren Geiſtern entlehnen. Und doch iſt er der Herr geblieben; der monarchiſche Charakter des preußiſchen Staates hat ſich, im Guten wie im Böſen, auch unter ſeiner Regierung nie verleugnet. In Noth und Schande, unter De- müthigungen, die einen freieren und kühneren Geiſt zur Verzweiflung bringen konnten, hat er unentwegt ausgehalten bei ſeiner Pflicht. So iſt ſein Name unzertrennlich verbunden mit den dunkelſten und den reinſten Erinnerungen unſerer neuen Geſchichte. Seine Pflichttreue und ein natür- liches Gefühl für die Ehre des Königthums gaben ihm die Kraft, allmäh- lich hineinzuwachſen in das Verſtändniß ſeiner Stellung. Nach und nach lernte er ſelbſt ſolche Gebiete des nationalen Lebens ſchätzen, die ſeinem nüchternen hausbackenen Weſen urſprünglich fremd waren. Er lernte ſich zurechtfinden in der auswärtigen Politik; und dieſer proſaiſche Menſch, der in ſeinen jungen Jahren an der weinerlichen Plattheit Lafontaine’ſcher Romane Gefallen fand, iſt ſchließlich der Mäcenas ſeines Hauſes gewor- den, ein Beſchützer der Künſte und Wiſſenſchaften wie kein Anderer unter den Hohenzollern. Wer ihn in ſeiner menſchlichen Liebenswürdigkeit ſehen wollte, der mußte ihn aufſuchen im einſamen Schlößchen zu Paretz. Dort unter den alten Bäumen am blauen Havelſee verlebte der junge Fürſt ſeine glücklichſten Tage, an der Seite ſeiner lieblichen Gemahlin Luiſe, in dem munteren Kreiſe der ſchönen kleinen Flachsköpfe, die ihm heran- wuchſen; dort thaute er auf und brachte durch drollige Einfälle ſelbſt die geſtrenge Wächterin der Etikette, die Gräfin Voß zu reſpectwidrigem Lachen.
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I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Staate den Untergang bereitete; aber er hat auch, als er nach zehn Jahren
des Zauderns und nach grauſamen Schickſalsſchlägen endlich wagte ganz
er ſelber zu ſein, aus freiem Entſchluſſe den Neubau des Staates in
Angriff genommen, die Reformgedanken ſeiner Räthe genau ſo weit durch-
geführt, wie es ihm richtig ſchien, und den lang vorbereiteten Befreiungs-
krieg nicht eher geſtattet, als bis er ſelber einſah, der rechte Augenblick
ſei gekommen. Er hat in der zweiten Hälfte ſeiner Regierung den An-
ſchluß der preußiſchen Politik an Oeſterreich, die Sünden der Demagogen-
jagd und das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſung verſchuldet, aber
auch die Neugründung des preußiſchen Einheitsſtaates mit zäher Geduld
geleitet und mit richtigem Blicke die gute Stunde erkannt, da die orien-
taliſchen Wirren und die Kämpfe der deutſchen Handelspolitik dem Staate
erlaubten wieder ſelbſtändig ſeines Weges zu gehen. Ohne ihn und das
allgemeine Zutrauen zu ſeiner Rechtſchaffenheit war die Verſöhnung der
zahlloſen landſchaftlichen Gegenſätze in dem neuen Preußen ebenſo un-
möglich wie die friedliche Entſtehung jenes Zollvereins, der das nicht-
öſterreichiſche Deutſchland unauflöslich mit dem preußiſchen Staate ver-
kettete und die Grenzpfähle aufrichtete für das neue deutſche Reich.
Dieſer König konnte nicht, wie der erſte Friedrich Wilhelm und ſein
Sohn, den Stempel ſeines eigenen Weſens dem Staate aufprägen, ſon-
dern mußte die ſchöpferiſchen Gedanken von anderen, reicheren Geiſtern
entlehnen. Und doch iſt er der Herr geblieben; der monarchiſche Charakter
des preußiſchen Staates hat ſich, im Guten wie im Böſen, auch unter
ſeiner Regierung nie verleugnet. In Noth und Schande, unter De-
müthigungen, die einen freieren und kühneren Geiſt zur Verzweiflung
bringen konnten, hat er unentwegt ausgehalten bei ſeiner Pflicht. So iſt
ſein Name unzertrennlich verbunden mit den dunkelſten und den reinſten
Erinnerungen unſerer neuen Geſchichte. Seine Pflichttreue und ein natür-
liches Gefühl für die Ehre des Königthums gaben ihm die Kraft, allmäh-
lich hineinzuwachſen in das Verſtändniß ſeiner Stellung. Nach und nach
lernte er ſelbſt ſolche Gebiete des nationalen Lebens ſchätzen, die ſeinem
nüchternen hausbackenen Weſen urſprünglich fremd waren. Er lernte ſich
zurechtfinden in der auswärtigen Politik; und dieſer proſaiſche Menſch, der
in ſeinen jungen Jahren an der weinerlichen Plattheit Lafontaine’ſcher
Romane Gefallen fand, iſt ſchließlich der Mäcenas ſeines Hauſes gewor-
den, ein Beſchützer der Künſte und Wiſſenſchaften wie kein Anderer unter
den Hohenzollern. Wer ihn in ſeiner menſchlichen Liebenswürdigkeit ſehen
wollte, der mußte ihn aufſuchen im einſamen Schlößchen zu Paretz. Dort
unter den alten Bäumen am blauen Havelſee verlebte der junge Fürſt
ſeine glücklichſten Tage, an der Seite ſeiner lieblichen Gemahlin Luiſe, in
dem munteren Kreiſe der ſchönen kleinen Flachsköpfe, die ihm heran-
wuchſen; dort thaute er auf und brachte durch drollige Einfälle ſelbſt die
geſtrenge Wächterin der Etikette, die Gräfin Voß zu reſpectwidrigem Lachen.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/164>, abgerufen am 23.07.2024.
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