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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Friedrich Wilhelm III.
Weltanschauung emporheben konnte. Erst wurde die unbefangene Heiter-
keit des Knaben durch die gallige Laune eines pedantischen Lehrers, des
Theologen Behnisch, gewaltsam niedergedrückt; dann mußte der sitten-
strenge Prinz das leichtfertige Treiben des väterlichen Hofes mit ansehen
und den tiefen Ekel, den sein schamhafter Sinn empfand, scheu ver-
bergen. So lernte er, in sich einzukehren und die Welt zu meiden. Eine
unbezwingliche Schüchternheit lähmte ihm die Thatkraft; es ward sein
Verhängniß, daß er nie vermochte leicht zu leben und mit heiterem Selbst-
gefühle unter seine Menschen zu blicken. Jedes Hinaustreten in die
Oeffentlichkeit, selbst das Reden in größerem Kreise fiel ihm lästig; in
barschen, abgerissenen Sätzen sprach er dann sein verständiges Urtheil,
seine zarte Empfindung aus; das gedrückte, verlegene Wesen ließ die hohe
ritterliche Gestalt mit den schönen treuen blauen Augen nicht zur rechten
Geltung kommen. Von Jugend auf an den Umgang mit mittelmäßigen
Köpfen gewöhnt, hat er den Widerwillen gegen das Geniale, Kühne,
Außerordentliche selten überwunden. Ihn erschreckte jener laute rücksichts-
lose Freimuth, der den großen Germanen eignet. Von allen den hoch-
begabten Männern, die ihm dienten, ist ihm nur Einer wahrhaft lieb
und theuer geworden: Scharnhorsts einfältig anspruchslose Größe.

Es ist die Stärke und die Schuld treuer Gemüther, daß sie schwer
vergessen. Friedrich Wilhelm verzieh leicht, doch er vergaß nicht. Wie
er jedes Verdienst und jede unscheinbare Gefälligkeit dankbar im Gedächt-
niß bewahrte und die Trennung von treuen Unterthanen als ein tiefes
Herzeleid empfand, so konnte er auch den Zorn jahrelang in sich ver-
schließen, bis er sich einmal das Herz faßte "auf gut deutsch seine Mei-
nung zu sagen"; dann wurde der gütige Fürst in polternder Heftigkeit
auf gut deutsch ungerecht und kleinlich. Am Wenigsten vergaß er eigen-
mächtiges Handeln seiner Diener. Denn er wollte der König sein, und
er war es. Niemand hat ihn je beherrscht. Unsäglich schwer fiel ihm
jeder große Entschluß; er zauderte und überlegte, ließ die Dinge gehen,
duldete lange was ihm mißfiel, weil er sich mit seinem Urtheil nicht
heraustraute; doch wenn entschieden sein mußte, dann folgte er immer
und überall nur seinem Gewissen. Er hat aus Unentschlossenheit Vieles
unterlassen, wozu sein gerader Verstand ihn drängte, aber nie etwas ge-
than, was nicht aus eigener wohlerwogener Ueberzeugung kam. Sein
langsamer, doch zäher und fester Geist nahm von den Gedanken größerer
Köpfe nur auf was seinem Wesen zusagte; keine Macht der Ueberredung
hätte ihn je bestimmt, die sittlichen und politischen Grundsätze, die ihm
heilig waren, aufzugeben. Von der Schuld wie von dem Ruhme seiner
langen Regierung gebührt ihm selber weit mehr als die Zeitgenossen an-
nahmen, die den schlichten Fürsten neben den glänzenden Gestalten seiner
Generale und Staatsmänner zuweilen fast aus den Augen verloren. Er
trägt die Hauptschuld an jener schlaffen Friedenspolitik, welche dem alten

10*

Friedrich Wilhelm III.
Weltanſchauung emporheben konnte. Erſt wurde die unbefangene Heiter-
keit des Knaben durch die gallige Laune eines pedantiſchen Lehrers, des
Theologen Behniſch, gewaltſam niedergedrückt; dann mußte der ſitten-
ſtrenge Prinz das leichtfertige Treiben des väterlichen Hofes mit anſehen
und den tiefen Ekel, den ſein ſchamhafter Sinn empfand, ſcheu ver-
bergen. So lernte er, in ſich einzukehren und die Welt zu meiden. Eine
unbezwingliche Schüchternheit lähmte ihm die Thatkraft; es ward ſein
Verhängniß, daß er nie vermochte leicht zu leben und mit heiterem Selbſt-
gefühle unter ſeine Menſchen zu blicken. Jedes Hinaustreten in die
Oeffentlichkeit, ſelbſt das Reden in größerem Kreiſe fiel ihm läſtig; in
barſchen, abgeriſſenen Sätzen ſprach er dann ſein verſtändiges Urtheil,
ſeine zarte Empfindung aus; das gedrückte, verlegene Weſen ließ die hohe
ritterliche Geſtalt mit den ſchönen treuen blauen Augen nicht zur rechten
Geltung kommen. Von Jugend auf an den Umgang mit mittelmäßigen
Köpfen gewöhnt, hat er den Widerwillen gegen das Geniale, Kühne,
Außerordentliche ſelten überwunden. Ihn erſchreckte jener laute rückſichts-
loſe Freimuth, der den großen Germanen eignet. Von allen den hoch-
begabten Männern, die ihm dienten, iſt ihm nur Einer wahrhaft lieb
und theuer geworden: Scharnhorſts einfältig anſpruchsloſe Größe.

Es iſt die Stärke und die Schuld treuer Gemüther, daß ſie ſchwer
vergeſſen. Friedrich Wilhelm verzieh leicht, doch er vergaß nicht. Wie
er jedes Verdienſt und jede unſcheinbare Gefälligkeit dankbar im Gedächt-
niß bewahrte und die Trennung von treuen Unterthanen als ein tiefes
Herzeleid empfand, ſo konnte er auch den Zorn jahrelang in ſich ver-
ſchließen, bis er ſich einmal das Herz faßte „auf gut deutſch ſeine Mei-
nung zu ſagen“; dann wurde der gütige Fürſt in polternder Heftigkeit
auf gut deutſch ungerecht und kleinlich. Am Wenigſten vergaß er eigen-
mächtiges Handeln ſeiner Diener. Denn er wollte der König ſein, und
er war es. Niemand hat ihn je beherrſcht. Unſäglich ſchwer fiel ihm
jeder große Entſchluß; er zauderte und überlegte, ließ die Dinge gehen,
duldete lange was ihm mißfiel, weil er ſich mit ſeinem Urtheil nicht
heraustraute; doch wenn entſchieden ſein mußte, dann folgte er immer
und überall nur ſeinem Gewiſſen. Er hat aus Unentſchloſſenheit Vieles
unterlaſſen, wozu ſein gerader Verſtand ihn drängte, aber nie etwas ge-
than, was nicht aus eigener wohlerwogener Ueberzeugung kam. Sein
langſamer, doch zäher und feſter Geiſt nahm von den Gedanken größerer
Köpfe nur auf was ſeinem Weſen zuſagte; keine Macht der Ueberredung
hätte ihn je beſtimmt, die ſittlichen und politiſchen Grundſätze, die ihm
heilig waren, aufzugeben. Von der Schuld wie von dem Ruhme ſeiner
langen Regierung gebührt ihm ſelber weit mehr als die Zeitgenoſſen an-
nahmen, die den ſchlichten Fürſten neben den glänzenden Geſtalten ſeiner
Generale und Staatsmänner zuweilen faſt aus den Augen verloren. Er
trägt die Hauptſchuld an jener ſchlaffen Friedenspolitik, welche dem alten

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[147/0163] Friedrich Wilhelm III. Weltanſchauung emporheben konnte. Erſt wurde die unbefangene Heiter- keit des Knaben durch die gallige Laune eines pedantiſchen Lehrers, des Theologen Behniſch, gewaltſam niedergedrückt; dann mußte der ſitten- ſtrenge Prinz das leichtfertige Treiben des väterlichen Hofes mit anſehen und den tiefen Ekel, den ſein ſchamhafter Sinn empfand, ſcheu ver- bergen. So lernte er, in ſich einzukehren und die Welt zu meiden. Eine unbezwingliche Schüchternheit lähmte ihm die Thatkraft; es ward ſein Verhängniß, daß er nie vermochte leicht zu leben und mit heiterem Selbſt- gefühle unter ſeine Menſchen zu blicken. Jedes Hinaustreten in die Oeffentlichkeit, ſelbſt das Reden in größerem Kreiſe fiel ihm läſtig; in barſchen, abgeriſſenen Sätzen ſprach er dann ſein verſtändiges Urtheil, ſeine zarte Empfindung aus; das gedrückte, verlegene Weſen ließ die hohe ritterliche Geſtalt mit den ſchönen treuen blauen Augen nicht zur rechten Geltung kommen. Von Jugend auf an den Umgang mit mittelmäßigen Köpfen gewöhnt, hat er den Widerwillen gegen das Geniale, Kühne, Außerordentliche ſelten überwunden. Ihn erſchreckte jener laute rückſichts- loſe Freimuth, der den großen Germanen eignet. Von allen den hoch- begabten Männern, die ihm dienten, iſt ihm nur Einer wahrhaft lieb und theuer geworden: Scharnhorſts einfältig anſpruchsloſe Größe. Es iſt die Stärke und die Schuld treuer Gemüther, daß ſie ſchwer vergeſſen. Friedrich Wilhelm verzieh leicht, doch er vergaß nicht. Wie er jedes Verdienſt und jede unſcheinbare Gefälligkeit dankbar im Gedächt- niß bewahrte und die Trennung von treuen Unterthanen als ein tiefes Herzeleid empfand, ſo konnte er auch den Zorn jahrelang in ſich ver- ſchließen, bis er ſich einmal das Herz faßte „auf gut deutſch ſeine Mei- nung zu ſagen“; dann wurde der gütige Fürſt in polternder Heftigkeit auf gut deutſch ungerecht und kleinlich. Am Wenigſten vergaß er eigen- mächtiges Handeln ſeiner Diener. Denn er wollte der König ſein, und er war es. Niemand hat ihn je beherrſcht. Unſäglich ſchwer fiel ihm jeder große Entſchluß; er zauderte und überlegte, ließ die Dinge gehen, duldete lange was ihm mißfiel, weil er ſich mit ſeinem Urtheil nicht heraustraute; doch wenn entſchieden ſein mußte, dann folgte er immer und überall nur ſeinem Gewiſſen. Er hat aus Unentſchloſſenheit Vieles unterlaſſen, wozu ſein gerader Verſtand ihn drängte, aber nie etwas ge- than, was nicht aus eigener wohlerwogener Ueberzeugung kam. Sein langſamer, doch zäher und feſter Geiſt nahm von den Gedanken größerer Köpfe nur auf was ſeinem Weſen zuſagte; keine Macht der Ueberredung hätte ihn je beſtimmt, die ſittlichen und politiſchen Grundſätze, die ihm heilig waren, aufzugeben. Von der Schuld wie von dem Ruhme ſeiner langen Regierung gebührt ihm ſelber weit mehr als die Zeitgenoſſen an- nahmen, die den ſchlichten Fürſten neben den glänzenden Geſtalten ſeiner Generale und Staatsmänner zuweilen faſt aus den Augen verloren. Er trägt die Hauptſchuld an jener ſchlaffen Friedenspolitik, welche dem alten 10*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/163>, abgerufen am 27.11.2024.