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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
schwollen die Heere aller Nachbarreiche zu ungeheuren Massen an, die
Weltstellung des Staates ward durch die Verschiebung der Grenzen im
Osten und im Westen schwieriger denn je.

Als der zweite Friedrich Wilhelm die Augen schloß, war Preußens
Macht im Innern wie nach Außen schwächer denn beim Tode seines
Oheims. Aus dem festgefügten deutschen Staate, dem ein genialer Wille
das Ungeheure zumuthen konnte, war ein schwerfälliges deutsch-slavisches
Mischreich geworden, das weder die Heeresmacht noch die Geldmittel besaß
um sein weites Gebiet zu vertheidigen und langen Friedens bedurfte um
nur wieder zu innerer Einheit zu gelangen. Die großen Strafgerichte
der Geschichte sind schwachen Gemüthern unheimlich, denn der Vollstrecker
des gerechten Urtheils ist fast immer selbst Partei, selbst schuldbelastet.
So ward die durch gehäufte Frevel verdiente Zerstörung des polnischen
Staates jetzt von unreinen Händen vollzogen. Die Schuld, die an der
nothwendigen That haftete, wurde an Rußland bestraft durch eine lange
Reihe schwerer innerer Kämpfe, an Oesterreich durch die Mißerfolge der
französischen Kriege, doch von keiner der drei Theilungsmächte ist sie
so schwer gebüßt worden wie von Preußen; denn keine von ihnen war
durch die Eroberung reinpolnischen Landes soweit abgeirrt von den Bahnen
ihrer natürlichen Politik, wie dieser deutsche Staat. Durch den Klein-
muth von Basel wie durch das Ränkespiel von Grodno hatte Preußen
an seinem Theile dazu geholfen, daß nunmehr jene ruchlose Ländergier
in Europa zur Alleinherrschaft gelangte, die kein Recht anerkannte als
das Recht des Starken und in Napoleon ihren größten Vertreter fand.
Deutschland aber war, da alle seine Staaten sich dem unabweisbaren
Werke der Reform versagten, wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit
Gustav Adolfs: wie damals die Parität der Kirchen, so konnte jetzt die
Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der Theokratie nur
noch durch das Eingreifen ausländischer Gewalten erreicht werden. --


So lagen die Dinge, als König Friedrich Wilhelm III. den Thron
bestieg. Ernst und pflichtgetreu, fromm und rechtschaffen, gerecht und
wahrhaft, in Art und Unart ein deutscher Mann, besaß er alle Tugenden,
die den guten und reinen Menschen bilden, und schien wie geschaffen,
einen wohlgeordneten Mittelstaat in Ehren durch eine ruhige Zeit hin-
durchzuführen; diesem tiefen Gemüthe war es ein Bedürfniß von seinen
Unterthanen geliebt zu werden. Sein Geist umspannte nur ein enges
Gebiet; doch über alle Fragen, die in seinen Gesichtskreis fielen, urtheilte
er klar und richtig, nach tiefer, gründlicher Erwägung, und bewährte
immer ein angeborenes glückliches Verständniß für die Mächte der Wirklich-
keit. Seine Erziehung hatte Alles verabsäumt, was diese edle, aber
schwunglose und im Grunde unpolitische Natur zu der Freiheit königlicher

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſchwollen die Heere aller Nachbarreiche zu ungeheuren Maſſen an, die
Weltſtellung des Staates ward durch die Verſchiebung der Grenzen im
Oſten und im Weſten ſchwieriger denn je.

Als der zweite Friedrich Wilhelm die Augen ſchloß, war Preußens
Macht im Innern wie nach Außen ſchwächer denn beim Tode ſeines
Oheims. Aus dem feſtgefügten deutſchen Staate, dem ein genialer Wille
das Ungeheure zumuthen konnte, war ein ſchwerfälliges deutſch-ſlaviſches
Miſchreich geworden, das weder die Heeresmacht noch die Geldmittel beſaß
um ſein weites Gebiet zu vertheidigen und langen Friedens bedurfte um
nur wieder zu innerer Einheit zu gelangen. Die großen Strafgerichte
der Geſchichte ſind ſchwachen Gemüthern unheimlich, denn der Vollſtrecker
des gerechten Urtheils iſt faſt immer ſelbſt Partei, ſelbſt ſchuldbelaſtet.
So ward die durch gehäufte Frevel verdiente Zerſtörung des polniſchen
Staates jetzt von unreinen Händen vollzogen. Die Schuld, die an der
nothwendigen That haftete, wurde an Rußland beſtraft durch eine lange
Reihe ſchwerer innerer Kämpfe, an Oeſterreich durch die Mißerfolge der
franzöſiſchen Kriege, doch von keiner der drei Theilungsmächte iſt ſie
ſo ſchwer gebüßt worden wie von Preußen; denn keine von ihnen war
durch die Eroberung reinpolniſchen Landes ſoweit abgeirrt von den Bahnen
ihrer natürlichen Politik, wie dieſer deutſche Staat. Durch den Klein-
muth von Baſel wie durch das Ränkeſpiel von Grodno hatte Preußen
an ſeinem Theile dazu geholfen, daß nunmehr jene ruchloſe Ländergier
in Europa zur Alleinherrſchaft gelangte, die kein Recht anerkannte als
das Recht des Starken und in Napoleon ihren größten Vertreter fand.
Deutſchland aber war, da alle ſeine Staaten ſich dem unabweisbaren
Werke der Reform verſagten, wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit
Guſtav Adolfs: wie damals die Parität der Kirchen, ſo konnte jetzt die
Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der Theokratie nur
noch durch das Eingreifen ausländiſcher Gewalten erreicht werden. —


So lagen die Dinge, als König Friedrich Wilhelm III. den Thron
beſtieg. Ernſt und pflichtgetreu, fromm und rechtſchaffen, gerecht und
wahrhaft, in Art und Unart ein deutſcher Mann, beſaß er alle Tugenden,
die den guten und reinen Menſchen bilden, und ſchien wie geſchaffen,
einen wohlgeordneten Mittelſtaat in Ehren durch eine ruhige Zeit hin-
durchzuführen; dieſem tiefen Gemüthe war es ein Bedürfniß von ſeinen
Unterthanen geliebt zu werden. Sein Geiſt umſpannte nur ein enges
Gebiet; doch über alle Fragen, die in ſeinen Geſichtskreis fielen, urtheilte
er klar und richtig, nach tiefer, gründlicher Erwägung, und bewährte
immer ein angeborenes glückliches Verſtändniß für die Mächte der Wirklich-
keit. Seine Erziehung hatte Alles verabſäumt, was dieſe edle, aber
ſchwungloſe und im Grunde unpolitiſche Natur zu der Freiheit königlicher

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[146/0162] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. ſchwollen die Heere aller Nachbarreiche zu ungeheuren Maſſen an, die Weltſtellung des Staates ward durch die Verſchiebung der Grenzen im Oſten und im Weſten ſchwieriger denn je. Als der zweite Friedrich Wilhelm die Augen ſchloß, war Preußens Macht im Innern wie nach Außen ſchwächer denn beim Tode ſeines Oheims. Aus dem feſtgefügten deutſchen Staate, dem ein genialer Wille das Ungeheure zumuthen konnte, war ein ſchwerfälliges deutſch-ſlaviſches Miſchreich geworden, das weder die Heeresmacht noch die Geldmittel beſaß um ſein weites Gebiet zu vertheidigen und langen Friedens bedurfte um nur wieder zu innerer Einheit zu gelangen. Die großen Strafgerichte der Geſchichte ſind ſchwachen Gemüthern unheimlich, denn der Vollſtrecker des gerechten Urtheils iſt faſt immer ſelbſt Partei, ſelbſt ſchuldbelaſtet. So ward die durch gehäufte Frevel verdiente Zerſtörung des polniſchen Staates jetzt von unreinen Händen vollzogen. Die Schuld, die an der nothwendigen That haftete, wurde an Rußland beſtraft durch eine lange Reihe ſchwerer innerer Kämpfe, an Oeſterreich durch die Mißerfolge der franzöſiſchen Kriege, doch von keiner der drei Theilungsmächte iſt ſie ſo ſchwer gebüßt worden wie von Preußen; denn keine von ihnen war durch die Eroberung reinpolniſchen Landes ſoweit abgeirrt von den Bahnen ihrer natürlichen Politik, wie dieſer deutſche Staat. Durch den Klein- muth von Baſel wie durch das Ränkeſpiel von Grodno hatte Preußen an ſeinem Theile dazu geholfen, daß nunmehr jene ruchloſe Ländergier in Europa zur Alleinherrſchaft gelangte, die kein Recht anerkannte als das Recht des Starken und in Napoleon ihren größten Vertreter fand. Deutſchland aber war, da alle ſeine Staaten ſich dem unabweisbaren Werke der Reform verſagten, wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit Guſtav Adolfs: wie damals die Parität der Kirchen, ſo konnte jetzt die Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der Theokratie nur noch durch das Eingreifen ausländiſcher Gewalten erreicht werden. — So lagen die Dinge, als König Friedrich Wilhelm III. den Thron beſtieg. Ernſt und pflichtgetreu, fromm und rechtſchaffen, gerecht und wahrhaft, in Art und Unart ein deutſcher Mann, beſaß er alle Tugenden, die den guten und reinen Menſchen bilden, und ſchien wie geſchaffen, einen wohlgeordneten Mittelſtaat in Ehren durch eine ruhige Zeit hin- durchzuführen; dieſem tiefen Gemüthe war es ein Bedürfniß von ſeinen Unterthanen geliebt zu werden. Sein Geiſt umſpannte nur ein enges Gebiet; doch über alle Fragen, die in ſeinen Geſichtskreis fielen, urtheilte er klar und richtig, nach tiefer, gründlicher Erwägung, und bewährte immer ein angeborenes glückliches Verſtändniß für die Mächte der Wirklich- keit. Seine Erziehung hatte Alles verabſäumt, was dieſe edle, aber ſchwungloſe und im Grunde unpolitiſche Natur zu der Freiheit königlicher

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/162>, abgerufen am 27.11.2024.