starrung, welche während des folgenden Jahrzehntes Verwaltung und Heerwesen lähmte. Die Kräfte des deutschen Beamtenthums genügten kaum, um diesen halbbarbarischen Landen, die für die altpreußische Ver- waltung noch nicht reif waren, die Anfänge gesitteten Menschenlebens zu sichern. Wie durfte man vollends an Reformen denken? an die Ein- führung der Selbstverwaltung, die in zwei Fünfteln der Monarchie nur der Tyrannei des polnischen Junkerthums zu gute gekommen wäre? oder an die Bildung eines rein nationalen Heeres, das unter zehn Soldaten je vier Polen gezählt hätte?
Während der Staat früherhin mit heilsamer Strenge alle seine In- stitutionen und namentlich die Steuerverfassung sofort in seinen neu- erworbenen Provinzen eingeführt hatte, waltete jetzt am Hofe eine nach- sichtige Milde, die nur allzugeneigt war jeden Herzenswunsch der neuen Landeskinder zu erhören, jede berechtigte und unberechtigte Eigenthümlich- keit zu schonen. Man gab den neuen Provinzen, statt sie in die Organi- sation der alten Behörden einfach einzufügen, eine provisorische Verwal- tung; in Franken regierte Hardenberg, in Südpreußen Graf Hoym mit der Machtvollkommenheit eines Vicekönigs. Die alten Abgaben blieben erhalten, selbst an dem verworrenen und verderbten polnischen Steuerwesen wurden nur einzelne schreiende Mißstände beseitigt, und so geschah das Unerhörte, daß die weiten polnischen Gebiete zu den Ausgaben des Ge- sammtstaates nur eine winzige Summe, kaum 200,000 Thaler, bei- steuerten, während das reiche Franken sogar einen jährlichen Zuschuß beanspruchte. Es war, als ob der erschlaffte Staat sich's nicht mehr zu- traute seine neuen Erwerbungen mit seinem Geiste zu erfüllen; der alte mannhafte Grundsatz der rücksichtslosen Anspannung aller Kräfte erschien der weichlichen Philanthropie des Zeitalters grausam. Zudem bot die Einziehung der Starosten- und Kirchengüter in Polen der Großmuth des Königs eine unwiderstehliche Versuchung; er verschenkte einen großen Theil dieser Latifundien nach Gunst und Laune, statt sie zu zerschlagen und unter deutsche Einwanderer zu vertheilen. Der gierige Wettbewerb um die südpreußischen Krongüter schädigte die ohnehin gelockerte Zucht des Beamtenthums schwer; der polnische Bauer vergaß den Dank für die Wohlthaten der preußischen Verwaltung, wenn er die vielen schimpflich erworbenen Vermögen der neuen Herren betrachtete.
Von allen Unterlassungssünden dieser müden Jahre ward keine so verderblich wie die Vernachlässigung des Heerwesens. Die Gutmüthigkeit des Königs, die falsche Sparsamkeit einer schlaffen Friedenspolitik und das stille Mißtrauen gegen die Treue der polnischen Soldaten bewirkten, daß die nothwendige Verstärkung der Armee unterblieb. Während die Bevölkerung sich fast verdoppelte, wurden die Truppen nur um etwa 35,000 Mann vermehrt, die Ausgaben für das Heerwesen stiegen seit Friedrichs Tode von 11--12 auf etwa 14 Millionen Thaler. Indessen
Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 10
Ausgang Friedrich Wilhelms II.
ſtarrung, welche während des folgenden Jahrzehntes Verwaltung und Heerweſen lähmte. Die Kräfte des deutſchen Beamtenthums genügten kaum, um dieſen halbbarbariſchen Landen, die für die altpreußiſche Ver- waltung noch nicht reif waren, die Anfänge geſitteten Menſchenlebens zu ſichern. Wie durfte man vollends an Reformen denken? an die Ein- führung der Selbſtverwaltung, die in zwei Fünfteln der Monarchie nur der Tyrannei des polniſchen Junkerthums zu gute gekommen wäre? oder an die Bildung eines rein nationalen Heeres, das unter zehn Soldaten je vier Polen gezählt hätte?
Während der Staat früherhin mit heilſamer Strenge alle ſeine In- ſtitutionen und namentlich die Steuerverfaſſung ſofort in ſeinen neu- erworbenen Provinzen eingeführt hatte, waltete jetzt am Hofe eine nach- ſichtige Milde, die nur allzugeneigt war jeden Herzenswunſch der neuen Landeskinder zu erhören, jede berechtigte und unberechtigte Eigenthümlich- keit zu ſchonen. Man gab den neuen Provinzen, ſtatt ſie in die Organi- ſation der alten Behörden einfach einzufügen, eine proviſoriſche Verwal- tung; in Franken regierte Hardenberg, in Südpreußen Graf Hoym mit der Machtvollkommenheit eines Vicekönigs. Die alten Abgaben blieben erhalten, ſelbſt an dem verworrenen und verderbten polniſchen Steuerweſen wurden nur einzelne ſchreiende Mißſtände beſeitigt, und ſo geſchah das Unerhörte, daß die weiten polniſchen Gebiete zu den Ausgaben des Ge- ſammtſtaates nur eine winzige Summe, kaum 200,000 Thaler, bei- ſteuerten, während das reiche Franken ſogar einen jährlichen Zuſchuß beanſpruchte. Es war, als ob der erſchlaffte Staat ſich’s nicht mehr zu- traute ſeine neuen Erwerbungen mit ſeinem Geiſte zu erfüllen; der alte mannhafte Grundſatz der rückſichtsloſen Anſpannung aller Kräfte erſchien der weichlichen Philanthropie des Zeitalters grauſam. Zudem bot die Einziehung der Staroſten- und Kirchengüter in Polen der Großmuth des Königs eine unwiderſtehliche Verſuchung; er verſchenkte einen großen Theil dieſer Latifundien nach Gunſt und Laune, ſtatt ſie zu zerſchlagen und unter deutſche Einwanderer zu vertheilen. Der gierige Wettbewerb um die ſüdpreußiſchen Krongüter ſchädigte die ohnehin gelockerte Zucht des Beamtenthums ſchwer; der polniſche Bauer vergaß den Dank für die Wohlthaten der preußiſchen Verwaltung, wenn er die vielen ſchimpflich erworbenen Vermögen der neuen Herren betrachtete.
Von allen Unterlaſſungsſünden dieſer müden Jahre ward keine ſo verderblich wie die Vernachläſſigung des Heerweſens. Die Gutmüthigkeit des Königs, die falſche Sparſamkeit einer ſchlaffen Friedenspolitik und das ſtille Mißtrauen gegen die Treue der polniſchen Soldaten bewirkten, daß die nothwendige Verſtärkung der Armee unterblieb. Während die Bevölkerung ſich faſt verdoppelte, wurden die Truppen nur um etwa 35,000 Mann vermehrt, die Ausgaben für das Heerweſen ſtiegen ſeit Friedrichs Tode von 11—12 auf etwa 14 Millionen Thaler. Indeſſen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 10
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0161"n="145"/><fwplace="top"type="header">Ausgang Friedrich Wilhelms <hirendition="#aq">II.</hi></fw><lb/>ſtarrung, welche während des folgenden Jahrzehntes Verwaltung und<lb/>
Heerweſen lähmte. Die Kräfte des deutſchen Beamtenthums genügten<lb/>
kaum, um dieſen halbbarbariſchen Landen, die für die altpreußiſche Ver-<lb/>
waltung noch nicht reif waren, die Anfänge geſitteten Menſchenlebens zu<lb/>ſichern. Wie durfte man vollends an Reformen denken? an die Ein-<lb/>
führung der Selbſtverwaltung, die in zwei Fünfteln der Monarchie nur<lb/>
der Tyrannei des polniſchen Junkerthums zu gute gekommen wäre? oder<lb/>
an die Bildung eines rein nationalen Heeres, das unter zehn Soldaten<lb/>
je vier Polen gezählt hätte?</p><lb/><p>Während der Staat früherhin mit heilſamer Strenge alle ſeine In-<lb/>ſtitutionen und namentlich die Steuerverfaſſung ſofort in ſeinen neu-<lb/>
erworbenen Provinzen eingeführt hatte, waltete jetzt am Hofe eine nach-<lb/>ſichtige Milde, die nur allzugeneigt war jeden Herzenswunſch der neuen<lb/>
Landeskinder zu erhören, jede berechtigte und unberechtigte Eigenthümlich-<lb/>
keit zu ſchonen. Man gab den neuen Provinzen, ſtatt ſie in die Organi-<lb/>ſation der alten Behörden einfach einzufügen, eine proviſoriſche Verwal-<lb/>
tung; in Franken regierte Hardenberg, in Südpreußen Graf Hoym mit<lb/>
der Machtvollkommenheit eines Vicekönigs. Die alten Abgaben blieben<lb/>
erhalten, ſelbſt an dem verworrenen und verderbten polniſchen Steuerweſen<lb/>
wurden nur einzelne ſchreiende Mißſtände beſeitigt, und ſo geſchah das<lb/>
Unerhörte, daß die weiten polniſchen Gebiete zu den Ausgaben des Ge-<lb/>ſammtſtaates nur eine winzige Summe, kaum 200,000 Thaler, bei-<lb/>ſteuerten, während das reiche Franken ſogar einen jährlichen Zuſchuß<lb/>
beanſpruchte. Es war, als ob der erſchlaffte Staat ſich’s nicht mehr zu-<lb/>
traute ſeine neuen Erwerbungen mit ſeinem Geiſte zu erfüllen; der alte<lb/>
mannhafte Grundſatz der rückſichtsloſen Anſpannung aller Kräfte erſchien<lb/>
der weichlichen Philanthropie des Zeitalters grauſam. Zudem bot die<lb/>
Einziehung der Staroſten- und Kirchengüter in Polen der Großmuth des<lb/>
Königs eine unwiderſtehliche Verſuchung; er verſchenkte einen großen Theil<lb/>
dieſer Latifundien nach Gunſt und Laune, ſtatt ſie zu zerſchlagen und<lb/>
unter deutſche Einwanderer zu vertheilen. Der gierige Wettbewerb um<lb/>
die ſüdpreußiſchen Krongüter ſchädigte die ohnehin gelockerte Zucht des<lb/>
Beamtenthums ſchwer; der polniſche Bauer vergaß den Dank für die<lb/>
Wohlthaten der preußiſchen Verwaltung, wenn er die vielen ſchimpflich<lb/>
erworbenen Vermögen der neuen Herren betrachtete.</p><lb/><p>Von allen Unterlaſſungsſünden dieſer müden Jahre ward keine ſo<lb/>
verderblich wie die Vernachläſſigung des Heerweſens. Die Gutmüthigkeit<lb/>
des Königs, die falſche Sparſamkeit einer ſchlaffen Friedenspolitik und<lb/>
das ſtille Mißtrauen gegen die Treue der polniſchen Soldaten bewirkten,<lb/>
daß die nothwendige Verſtärkung der Armee unterblieb. Während die<lb/>
Bevölkerung ſich faſt verdoppelte, wurden die Truppen nur um etwa<lb/>
35,000 Mann vermehrt, die Ausgaben für das Heerweſen ſtiegen ſeit<lb/>
Friedrichs Tode von 11—12 auf etwa 14 Millionen Thaler. Indeſſen<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Treitſchke</hi>, Deutſche Geſchichte. <hirendition="#aq">I.</hi> 10</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[145/0161]
Ausgang Friedrich Wilhelms II.
ſtarrung, welche während des folgenden Jahrzehntes Verwaltung und
Heerweſen lähmte. Die Kräfte des deutſchen Beamtenthums genügten
kaum, um dieſen halbbarbariſchen Landen, die für die altpreußiſche Ver-
waltung noch nicht reif waren, die Anfänge geſitteten Menſchenlebens zu
ſichern. Wie durfte man vollends an Reformen denken? an die Ein-
führung der Selbſtverwaltung, die in zwei Fünfteln der Monarchie nur
der Tyrannei des polniſchen Junkerthums zu gute gekommen wäre? oder
an die Bildung eines rein nationalen Heeres, das unter zehn Soldaten
je vier Polen gezählt hätte?
Während der Staat früherhin mit heilſamer Strenge alle ſeine In-
ſtitutionen und namentlich die Steuerverfaſſung ſofort in ſeinen neu-
erworbenen Provinzen eingeführt hatte, waltete jetzt am Hofe eine nach-
ſichtige Milde, die nur allzugeneigt war jeden Herzenswunſch der neuen
Landeskinder zu erhören, jede berechtigte und unberechtigte Eigenthümlich-
keit zu ſchonen. Man gab den neuen Provinzen, ſtatt ſie in die Organi-
ſation der alten Behörden einfach einzufügen, eine proviſoriſche Verwal-
tung; in Franken regierte Hardenberg, in Südpreußen Graf Hoym mit
der Machtvollkommenheit eines Vicekönigs. Die alten Abgaben blieben
erhalten, ſelbſt an dem verworrenen und verderbten polniſchen Steuerweſen
wurden nur einzelne ſchreiende Mißſtände beſeitigt, und ſo geſchah das
Unerhörte, daß die weiten polniſchen Gebiete zu den Ausgaben des Ge-
ſammtſtaates nur eine winzige Summe, kaum 200,000 Thaler, bei-
ſteuerten, während das reiche Franken ſogar einen jährlichen Zuſchuß
beanſpruchte. Es war, als ob der erſchlaffte Staat ſich’s nicht mehr zu-
traute ſeine neuen Erwerbungen mit ſeinem Geiſte zu erfüllen; der alte
mannhafte Grundſatz der rückſichtsloſen Anſpannung aller Kräfte erſchien
der weichlichen Philanthropie des Zeitalters grauſam. Zudem bot die
Einziehung der Staroſten- und Kirchengüter in Polen der Großmuth des
Königs eine unwiderſtehliche Verſuchung; er verſchenkte einen großen Theil
dieſer Latifundien nach Gunſt und Laune, ſtatt ſie zu zerſchlagen und
unter deutſche Einwanderer zu vertheilen. Der gierige Wettbewerb um
die ſüdpreußiſchen Krongüter ſchädigte die ohnehin gelockerte Zucht des
Beamtenthums ſchwer; der polniſche Bauer vergaß den Dank für die
Wohlthaten der preußiſchen Verwaltung, wenn er die vielen ſchimpflich
erworbenen Vermögen der neuen Herren betrachtete.
Von allen Unterlaſſungsſünden dieſer müden Jahre ward keine ſo
verderblich wie die Vernachläſſigung des Heerweſens. Die Gutmüthigkeit
des Königs, die falſche Sparſamkeit einer ſchlaffen Friedenspolitik und
das ſtille Mißtrauen gegen die Treue der polniſchen Soldaten bewirkten,
daß die nothwendige Verſtärkung der Armee unterblieb. Während die
Bevölkerung ſich faſt verdoppelte, wurden die Truppen nur um etwa
35,000 Mann vermehrt, die Ausgaben für das Heerweſen ſtiegen ſeit
Friedrichs Tode von 11—12 auf etwa 14 Millionen Thaler. Indeſſen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 10
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/161>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.