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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
werden. Sie faßten also die Wiedereroberung der deutschen Westmark
ins Auge und gedachten zugleich den alten jülich-clevischen Erbfolgestreit
gänzlich zum Vortheil Preußens zu beendigen. Der gesunde Kern dieser
Gedanken war unverkennbar, doch wie durfte man hoffen, einen so glän-
zenden Gewinn, die Erwerbung von Posen und der Rheinprovinz zugleich,
anders zu erreichen als durch das Aufgebot aller Kräfte der Monarchie?
Ein häßlicher Anblick, wie nun die begehrlichen Wünsche der beiden Höfe
einander wechselseitig überboten und steigerten. Um nur der polnischen
Entschädigung sicher zu sein, gestattete Preußen, daß Oesterreich sich durch
Baiern vergrößere. Der oberste Grundsatz der fridericianischen Politik,
der so oft mit dem Schwert und der Feder behauptete Entschluß des
großen Königs, dem Hause Oesterreich unter keinen Umständen eine Macht-
erweiterung im Reiche zu gestatten, wurde in kläglicher Schwäche auf-
gegeben -- "aus feiger Habgier", wie Friedrich einst auf ähnliche Vor-
schläge geantwortet hatte. Und dabei war man doch der treuen Freundschaft
des neuen Bundesgenossen keineswegs versichert.

Im Juli 1792 versammelte sich der hohe Adel deutscher Nation zu
Mainz um seinen neuen Kaiser Franz. Es war das Henkermahl des
heiligen Reichs. Noch einmal prunkten durch die engen Gassen des goldenen
Mainz die Karossen der geistlichen Kurfürsten, das glänzende Diener-
gefolge von hunderten reichsfreier Fürsten, Grafen und Herren, die ganze
Herrlichkeit der guten alten Zeit -- zum letzten male bevor das neue
Jahrhundert den Urväterhausrath der rheinischen Bischofsmützen und
Fürstenkronen mit ehernen Sohlen zermalmte. Während dieser rauschen-
den Feste verhandelten die beiden Großmächte insgeheim über den Sieges-
preis. Das Schicksal Baierns schien entschieden; Preußen gab seinen
alten Schützling, das Haus Wittelsbach völlig preis, und bei der mili-
tärischen Schwäche der süddeutschen Staaten unterlag es keinem Zweifel,
daß Oesterreich den bairisch-belgischen Tausch sogleich erzwingen konnte.
Da traten die kaiserlichen Unterhändler mit der Erklärung hervor, ihr
Herr verlange nicht blos Baiern, sondern auch das soeben durch Preußen
rechtmäßig erworbene Ansbach-Baireuth; kein Zweifel mehr, die Hofburg
trachtete nach der Theilung Deutschlands, nach der Unterwerfung des
ganzen Südens. Die Minister in Berlin fühlten sich "wahrhaft empört",
der König empfand den Anschlag wider seine fränkischen Stammlande als
eine persönliche Beleidigung. Auch über die polnische Frage kam eine
klare Verständigung nicht zu Stande. Obgleich Oesterreich einer Gebiets-
erweiterung Preußens im Osten nicht gradezu widersprach, so fühlten
doch beide Theile, daß ihre Ansichten über Polens Zukunft weit aus-
einander gingen; der Berliner Hof hatte sich endlich überzeugt, daß die
von Wien her begünstigte polnische Maiverfassung dem preußischen Interesse
schnurstracks zuwiderlief.

Verstimmt, grollend, ohne jede feste Verabredung über das Ziel des

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
werden. Sie faßten alſo die Wiedereroberung der deutſchen Weſtmark
ins Auge und gedachten zugleich den alten jülich-cleviſchen Erbfolgeſtreit
gänzlich zum Vortheil Preußens zu beendigen. Der geſunde Kern dieſer
Gedanken war unverkennbar, doch wie durfte man hoffen, einen ſo glän-
zenden Gewinn, die Erwerbung von Poſen und der Rheinprovinz zugleich,
anders zu erreichen als durch das Aufgebot aller Kräfte der Monarchie?
Ein häßlicher Anblick, wie nun die begehrlichen Wünſche der beiden Höfe
einander wechſelſeitig überboten und ſteigerten. Um nur der polniſchen
Entſchädigung ſicher zu ſein, geſtattete Preußen, daß Oeſterreich ſich durch
Baiern vergrößere. Der oberſte Grundſatz der fridericianiſchen Politik,
der ſo oft mit dem Schwert und der Feder behauptete Entſchluß des
großen Königs, dem Hauſe Oeſterreich unter keinen Umſtänden eine Macht-
erweiterung im Reiche zu geſtatten, wurde in kläglicher Schwäche auf-
gegeben — „aus feiger Habgier“, wie Friedrich einſt auf ähnliche Vor-
ſchläge geantwortet hatte. Und dabei war man doch der treuen Freundſchaft
des neuen Bundesgenoſſen keineswegs verſichert.

Im Juli 1792 verſammelte ſich der hohe Adel deutſcher Nation zu
Mainz um ſeinen neuen Kaiſer Franz. Es war das Henkermahl des
heiligen Reichs. Noch einmal prunkten durch die engen Gaſſen des goldenen
Mainz die Karoſſen der geiſtlichen Kurfürſten, das glänzende Diener-
gefolge von hunderten reichsfreier Fürſten, Grafen und Herren, die ganze
Herrlichkeit der guten alten Zeit — zum letzten male bevor das neue
Jahrhundert den Urväterhausrath der rheiniſchen Biſchofsmützen und
Fürſtenkronen mit ehernen Sohlen zermalmte. Während dieſer rauſchen-
den Feſte verhandelten die beiden Großmächte insgeheim über den Sieges-
preis. Das Schickſal Baierns ſchien entſchieden; Preußen gab ſeinen
alten Schützling, das Haus Wittelsbach völlig preis, und bei der mili-
täriſchen Schwäche der ſüddeutſchen Staaten unterlag es keinem Zweifel,
daß Oeſterreich den bairiſch-belgiſchen Tauſch ſogleich erzwingen konnte.
Da traten die kaiſerlichen Unterhändler mit der Erklärung hervor, ihr
Herr verlange nicht blos Baiern, ſondern auch das ſoeben durch Preußen
rechtmäßig erworbene Ansbach-Baireuth; kein Zweifel mehr, die Hofburg
trachtete nach der Theilung Deutſchlands, nach der Unterwerfung des
ganzen Südens. Die Miniſter in Berlin fühlten ſich „wahrhaft empört“,
der König empfand den Anſchlag wider ſeine fränkiſchen Stammlande als
eine perſönliche Beleidigung. Auch über die polniſche Frage kam eine
klare Verſtändigung nicht zu Stande. Obgleich Oeſterreich einer Gebiets-
erweiterung Preußens im Oſten nicht gradezu widerſprach, ſo fühlten
doch beide Theile, daß ihre Anſichten über Polens Zukunft weit aus-
einander gingen; der Berliner Hof hatte ſich endlich überzeugt, daß die
von Wien her begünſtigte polniſche Maiverfaſſung dem preußiſchen Intereſſe
ſchnurſtracks zuwiderlief.

Verſtimmt, grollend, ohne jede feſte Verabredung über das Ziel des

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[126/0142] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. werden. Sie faßten alſo die Wiedereroberung der deutſchen Weſtmark ins Auge und gedachten zugleich den alten jülich-cleviſchen Erbfolgeſtreit gänzlich zum Vortheil Preußens zu beendigen. Der geſunde Kern dieſer Gedanken war unverkennbar, doch wie durfte man hoffen, einen ſo glän- zenden Gewinn, die Erwerbung von Poſen und der Rheinprovinz zugleich, anders zu erreichen als durch das Aufgebot aller Kräfte der Monarchie? Ein häßlicher Anblick, wie nun die begehrlichen Wünſche der beiden Höfe einander wechſelſeitig überboten und ſteigerten. Um nur der polniſchen Entſchädigung ſicher zu ſein, geſtattete Preußen, daß Oeſterreich ſich durch Baiern vergrößere. Der oberſte Grundſatz der fridericianiſchen Politik, der ſo oft mit dem Schwert und der Feder behauptete Entſchluß des großen Königs, dem Hauſe Oeſterreich unter keinen Umſtänden eine Macht- erweiterung im Reiche zu geſtatten, wurde in kläglicher Schwäche auf- gegeben — „aus feiger Habgier“, wie Friedrich einſt auf ähnliche Vor- ſchläge geantwortet hatte. Und dabei war man doch der treuen Freundſchaft des neuen Bundesgenoſſen keineswegs verſichert. Im Juli 1792 verſammelte ſich der hohe Adel deutſcher Nation zu Mainz um ſeinen neuen Kaiſer Franz. Es war das Henkermahl des heiligen Reichs. Noch einmal prunkten durch die engen Gaſſen des goldenen Mainz die Karoſſen der geiſtlichen Kurfürſten, das glänzende Diener- gefolge von hunderten reichsfreier Fürſten, Grafen und Herren, die ganze Herrlichkeit der guten alten Zeit — zum letzten male bevor das neue Jahrhundert den Urväterhausrath der rheiniſchen Biſchofsmützen und Fürſtenkronen mit ehernen Sohlen zermalmte. Während dieſer rauſchen- den Feſte verhandelten die beiden Großmächte insgeheim über den Sieges- preis. Das Schickſal Baierns ſchien entſchieden; Preußen gab ſeinen alten Schützling, das Haus Wittelsbach völlig preis, und bei der mili- täriſchen Schwäche der ſüddeutſchen Staaten unterlag es keinem Zweifel, daß Oeſterreich den bairiſch-belgiſchen Tauſch ſogleich erzwingen konnte. Da traten die kaiſerlichen Unterhändler mit der Erklärung hervor, ihr Herr verlange nicht blos Baiern, ſondern auch das ſoeben durch Preußen rechtmäßig erworbene Ansbach-Baireuth; kein Zweifel mehr, die Hofburg trachtete nach der Theilung Deutſchlands, nach der Unterwerfung des ganzen Südens. Die Miniſter in Berlin fühlten ſich „wahrhaft empört“, der König empfand den Anſchlag wider ſeine fränkiſchen Stammlande als eine perſönliche Beleidigung. Auch über die polniſche Frage kam eine klare Verſtändigung nicht zu Stande. Obgleich Oeſterreich einer Gebiets- erweiterung Preußens im Oſten nicht gradezu widerſprach, ſo fühlten doch beide Theile, daß ihre Anſichten über Polens Zukunft weit aus- einander gingen; der Berliner Hof hatte ſich endlich überzeugt, daß die von Wien her begünſtigte polniſche Maiverfaſſung dem preußiſchen Intereſſe ſchnurſtracks zuwiderlief. Verſtimmt, grollend, ohne jede feſte Verabredung über das Ziel des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/142>, abgerufen am 25.11.2024.