I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Herders "Ideen" die politischen Abschnitte neben der Fülle der cultur- historischen. Der einzige stark und eigenthümlich angelegte politische Denker, der Deutschlands jungem literarischen Leben angehörte, Justus Möser, hat auf die Zeitgenossen eigentlich nur ästhetisch gewirkt durch seine geistvolle Schilderung des deutschen Alterthums; seine tiefsinnige geschichtliche Auffassung vom Staate ward erst weit später, in den Tagen der historischen Rechtsschule, von der Nation verstanden. Die deutschen Leser brachten dem Publicisten ein reicheres Maß von Geschichtskennt- nissen entgegen als die Briten und Franzosen, aber keinen Schimmer von politischer Leidenschaft und politischem Verständniß. Die durch und durch unpolitische Zeit verstand die Kunst sich wohl zu befinden unter Zuständen, deren vollendeten Widersinn Jedermann fühlte. Derweil der Forschermuth deutscher Denker kühnlich an die dunkelsten Räthsel des Kosmos herantrat, erschien selbst nach den furchtbaren Lehren der sieben Jahre kein einziger Mann, der den Finger in die Wunden des deutschen Staates legte und der Nation mit schonungslosem Freimuth die ent- scheidende Frage vorhielt: was dies Aufsteigen einer neuen deutschen Groß- macht für unsere Zukunft bedeute?
Weder in dem Gedankenreichthum der Literatur noch in der That- kraft des preußischen Staates fand das deutsche Leben einen erschöpfenden Ausdruck. Wohl kamen Augenblicke, da die beiden schöpferischen Mächte unserer neuen Geschichte einander zu berühren und zu verstehen schienen. Wir Nachlebenden vernehmen mit Rührung, wie die bärbeißigen Offiziere des fridericianischen Heeres in Leipzig bei dem frommen Gellert Herzens- rath und Erbauung suchten; der Dichter des Frühlings, Ewald Kleist, der preußische Werbeoffizier, der sich in Zürich von den Strapazen der Menschenjagd im Kreise Klopstockischer Schöngeister erholte und dann bei Kunnersdorf den Soldatentod fand, erscheint uns heute bedeutender als mancher begabtere Poet, weil er den Heldensinn und die Dichtersehnsucht dieser reichen Zeit in sich vereinigte. Im Ganzen bleibt doch sicher, daß das alte Preußen ebenso unästhetisch war wie die deutsche Literatur un- politisch. Die preußische Hauptstadt war zu Lessings Zeiten einige Jahre lang die Hochburg der deutschen Kritik; seit den siebziger Jahren besaß sie wohl das kunstsinnigste Publicum Deutschlands, eine verfeinerte, geist- reiche Geselligkeit; schöpferisches Vermögen zeigte sie noch wenig. Vielmehr führte gerade an der Spree der seichte Eudämonismus das große Wort. Dem platten Menschenverstande Nicolais ging der Flug der jungen Dich- tung zu hoch; unter den Jammerrufen der Berliner Kritik wurden draußen im Reich die großen Schlachten der neuen deutschen Cultur geschlagen. Unserer classischen Literatur fehlte der feste Boden der nationalen Macht. Sie hat für alle Zukunft erwiesen, daß die stolze Freiheit der Poesie der Sonne des Glücks entrathen kann, daß eine neue Gedankenwelt, sobald sie sich in der Seele eines Volkes angesammelt hat, auch unfehlbar
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Herders „Ideen“ die politiſchen Abſchnitte neben der Fülle der cultur- hiſtoriſchen. Der einzige ſtark und eigenthümlich angelegte politiſche Denker, der Deutſchlands jungem literariſchen Leben angehörte, Juſtus Möſer, hat auf die Zeitgenoſſen eigentlich nur äſthetiſch gewirkt durch ſeine geiſtvolle Schilderung des deutſchen Alterthums; ſeine tiefſinnige geſchichtliche Auffaſſung vom Staate ward erſt weit ſpäter, in den Tagen der hiſtoriſchen Rechtsſchule, von der Nation verſtanden. Die deutſchen Leſer brachten dem Publiciſten ein reicheres Maß von Geſchichtskennt- niſſen entgegen als die Briten und Franzoſen, aber keinen Schimmer von politiſcher Leidenſchaft und politiſchem Verſtändniß. Die durch und durch unpolitiſche Zeit verſtand die Kunſt ſich wohl zu befinden unter Zuſtänden, deren vollendeten Widerſinn Jedermann fühlte. Derweil der Forſchermuth deutſcher Denker kühnlich an die dunkelſten Räthſel des Kosmos herantrat, erſchien ſelbſt nach den furchtbaren Lehren der ſieben Jahre kein einziger Mann, der den Finger in die Wunden des deutſchen Staates legte und der Nation mit ſchonungsloſem Freimuth die ent- ſcheidende Frage vorhielt: was dies Aufſteigen einer neuen deutſchen Groß- macht für unſere Zukunft bedeute?
Weder in dem Gedankenreichthum der Literatur noch in der That- kraft des preußiſchen Staates fand das deutſche Leben einen erſchöpfenden Ausdruck. Wohl kamen Augenblicke, da die beiden ſchöpferiſchen Mächte unſerer neuen Geſchichte einander zu berühren und zu verſtehen ſchienen. Wir Nachlebenden vernehmen mit Rührung, wie die bärbeißigen Offiziere des fridericianiſchen Heeres in Leipzig bei dem frommen Gellert Herzens- rath und Erbauung ſuchten; der Dichter des Frühlings, Ewald Kleiſt, der preußiſche Werbeoffizier, der ſich in Zürich von den Strapazen der Menſchenjagd im Kreiſe Klopſtockiſcher Schöngeiſter erholte und dann bei Kunnersdorf den Soldatentod fand, erſcheint uns heute bedeutender als mancher begabtere Poet, weil er den Heldenſinn und die Dichterſehnſucht dieſer reichen Zeit in ſich vereinigte. Im Ganzen bleibt doch ſicher, daß das alte Preußen ebenſo unäſthetiſch war wie die deutſche Literatur un- politiſch. Die preußiſche Hauptſtadt war zu Leſſings Zeiten einige Jahre lang die Hochburg der deutſchen Kritik; ſeit den ſiebziger Jahren beſaß ſie wohl das kunſtſinnigſte Publicum Deutſchlands, eine verfeinerte, geiſt- reiche Geſelligkeit; ſchöpferiſches Vermögen zeigte ſie noch wenig. Vielmehr führte gerade an der Spree der ſeichte Eudämonismus das große Wort. Dem platten Menſchenverſtande Nicolais ging der Flug der jungen Dich- tung zu hoch; unter den Jammerrufen der Berliner Kritik wurden draußen im Reich die großen Schlachten der neuen deutſchen Cultur geſchlagen. Unſerer claſſiſchen Literatur fehlte der feſte Boden der nationalen Macht. Sie hat für alle Zukunft erwieſen, daß die ſtolze Freiheit der Poeſie der Sonne des Glücks entrathen kann, daß eine neue Gedankenwelt, ſobald ſie ſich in der Seele eines Volkes angeſammelt hat, auch unfehlbar
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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Herders „Ideen“ die politiſchen Abſchnitte neben der Fülle der cultur-
hiſtoriſchen. Der einzige ſtark und eigenthümlich angelegte politiſche
Denker, der Deutſchlands jungem literariſchen Leben angehörte, Juſtus
Möſer, hat auf die Zeitgenoſſen eigentlich nur äſthetiſch gewirkt durch
ſeine geiſtvolle Schilderung des deutſchen Alterthums; ſeine tiefſinnige
geſchichtliche Auffaſſung vom Staate ward erſt weit ſpäter, in den Tagen
der hiſtoriſchen Rechtsſchule, von der Nation verſtanden. Die deutſchen
Leſer brachten dem Publiciſten ein reicheres Maß von Geſchichtskennt-
niſſen entgegen als die Briten und Franzoſen, aber keinen Schimmer
von politiſcher Leidenſchaft und politiſchem Verſtändniß. Die durch und
durch unpolitiſche Zeit verſtand die Kunſt ſich wohl zu befinden unter
Zuſtänden, deren vollendeten Widerſinn Jedermann fühlte. Derweil der
Forſchermuth deutſcher Denker kühnlich an die dunkelſten Räthſel des
Kosmos herantrat, erſchien ſelbſt nach den furchtbaren Lehren der ſieben
Jahre kein einziger Mann, der den Finger in die Wunden des deutſchen
Staates legte und der Nation mit ſchonungsloſem Freimuth die ent-
ſcheidende Frage vorhielt: was dies Aufſteigen einer neuen deutſchen Groß-
macht für unſere Zukunft bedeute?
Weder in dem Gedankenreichthum der Literatur noch in der That-
kraft des preußiſchen Staates fand das deutſche Leben einen erſchöpfenden
Ausdruck. Wohl kamen Augenblicke, da die beiden ſchöpferiſchen Mächte
unſerer neuen Geſchichte einander zu berühren und zu verſtehen ſchienen.
Wir Nachlebenden vernehmen mit Rührung, wie die bärbeißigen Offiziere
des fridericianiſchen Heeres in Leipzig bei dem frommen Gellert Herzens-
rath und Erbauung ſuchten; der Dichter des Frühlings, Ewald Kleiſt,
der preußiſche Werbeoffizier, der ſich in Zürich von den Strapazen der
Menſchenjagd im Kreiſe Klopſtockiſcher Schöngeiſter erholte und dann bei
Kunnersdorf den Soldatentod fand, erſcheint uns heute bedeutender als
mancher begabtere Poet, weil er den Heldenſinn und die Dichterſehnſucht
dieſer reichen Zeit in ſich vereinigte. Im Ganzen bleibt doch ſicher, daß
das alte Preußen ebenſo unäſthetiſch war wie die deutſche Literatur un-
politiſch. Die preußiſche Hauptſtadt war zu Leſſings Zeiten einige Jahre
lang die Hochburg der deutſchen Kritik; ſeit den ſiebziger Jahren beſaß
ſie wohl das kunſtſinnigſte Publicum Deutſchlands, eine verfeinerte, geiſt-
reiche Geſelligkeit; ſchöpferiſches Vermögen zeigte ſie noch wenig. Vielmehr
führte gerade an der Spree der ſeichte Eudämonismus das große Wort.
Dem platten Menſchenverſtande Nicolais ging der Flug der jungen Dich-
tung zu hoch; unter den Jammerrufen der Berliner Kritik wurden draußen
im Reich die großen Schlachten der neuen deutſchen Cultur geſchlagen.
Unſerer claſſiſchen Literatur fehlte der feſte Boden der nationalen Macht.
Sie hat für alle Zukunft erwieſen, daß die ſtolze Freiheit der Poeſie der
Sonne des Glücks entrathen kann, daß eine neue Gedankenwelt, ſobald
ſie ſich in der Seele eines Volkes angeſammelt hat, auch unfehlbar
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/118>, abgerufen am 23.07.2024.
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