I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Und doch erscheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen den Jesuitis- mus und das erstarrte Lutherthum ebenso bahnbrechend, ebenso radical wie die politischen Thaten des Großen Kurfürsten. Sie haben den festen Grund gelegt für Alles was wir heute deutsche Geistesfreiheit nennen. Aus den reiferen Werken von Leibnitz und Thomasius, aus Pufendorfs Schrift über das Verhältniß von Staat und Kirche spricht schon der freie Geist einer unbedingten Duldung, welcher im Auslande weder Locke noch Bayle ganz zu folgen vermochte.
Dem nächsten Menschenalter gebrach die schöpferische Kraft fast völlig; es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die bestimmenden Eindrücke seiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwisserei beherrschte den Markt der Gelehrsamkeit, und ihren weitschweifigen Werken fehlte, was der Rheinsberger Musenhof vor Allem schätzte, Maß, Schärfe, Bestimmtheit des Ausdrucks. Gottscheds Dichtung folgte sklavisch den steifen Regeln der französischen Poetik, ohne sich jemals aus breitspuriger Plattheit zu dem rednerischen Pathos der Romanen zu erheben. Kursachsen war das einzige deutsche Land, das sich geschmackvoller Bildung und einer fruchtbaren künstle- rischen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern und die reichen Barock-Bauten des Dresdener Hofes bezeichnen nur eine phantastische Nachblüthe der wälschen Kunst, nicht einen Fortschritt unseres nationalen Lebens. Gleichwohl stand das Wachsthum des deutschen Geistes auch jetzt nicht still. Die gemeinfaßlichen Ergebnisse der Gedankenarbeit der hoch- begabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig. Die Philosophie Christian Wolffs vollzog eine Versöhnung zwischen Glauben und Wissen, welche den Bedürfnissen des Zeitalters genügte, gab dem heran- wachsenden Geschlechte eine feste, in sich übereinstimmende Weltanschauung. Die Durchschnittsbildung der Mittelklassen fand ihren Frieden in dem Glauben, daß Gott nach den Naturgesetzen wirke. Wolff ging mit Absicht über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in weiten Kreisen die Lust zu denken und zu schreiben, gewöhnte die Gebildeten ihr Scherf- lein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung. Zugleich wirkte der Pietismus in der Gesellschaft fort. Der rauhe Ton tyrannischer Härte verschwand aus dem Familienleben. In den gefühlsseligen Con- ventikeln der schönen Seelen begann der Cultus der Persönlichkeit. Das Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth und Inhalt; die Deutschen erkannten wieder, wie reich die Welt des Herzens ist, und wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunst zu verstehen.
Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianischen Staates und überraschend stark wie sie, traten die in langen Jahren der Samm- lung still gereiften Kräfte des deutschen Genius in den Kampf hinaus. Im Jahre 1747 erschienen die ersten Gesänge von Klopstocks Messias. Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage- büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Und doch erſcheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen den Jeſuitis- mus und das erſtarrte Lutherthum ebenſo bahnbrechend, ebenſo radical wie die politiſchen Thaten des Großen Kurfürſten. Sie haben den feſten Grund gelegt für Alles was wir heute deutſche Geiſtesfreiheit nennen. Aus den reiferen Werken von Leibnitz und Thomaſius, aus Pufendorfs Schrift über das Verhältniß von Staat und Kirche ſpricht ſchon der freie Geiſt einer unbedingten Duldung, welcher im Auslande weder Locke noch Bayle ganz zu folgen vermochte.
Dem nächſten Menſchenalter gebrach die ſchöpferiſche Kraft faſt völlig; es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die beſtimmenden Eindrücke ſeiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwiſſerei beherrſchte den Markt der Gelehrſamkeit, und ihren weitſchweifigen Werken fehlte, was der Rheinsberger Muſenhof vor Allem ſchätzte, Maß, Schärfe, Beſtimmtheit des Ausdrucks. Gottſcheds Dichtung folgte ſklaviſch den ſteifen Regeln der franzöſiſchen Poetik, ohne ſich jemals aus breitſpuriger Plattheit zu dem redneriſchen Pathos der Romanen zu erheben. Kurſachſen war das einzige deutſche Land, das ſich geſchmackvoller Bildung und einer fruchtbaren künſtle- riſchen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern und die reichen Barock-Bauten des Dresdener Hofes bezeichnen nur eine phantaſtiſche Nachblüthe der wälſchen Kunſt, nicht einen Fortſchritt unſeres nationalen Lebens. Gleichwohl ſtand das Wachsthum des deutſchen Geiſtes auch jetzt nicht ſtill. Die gemeinfaßlichen Ergebniſſe der Gedankenarbeit der hoch- begabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig. Die Philoſophie Chriſtian Wolffs vollzog eine Verſöhnung zwiſchen Glauben und Wiſſen, welche den Bedürfniſſen des Zeitalters genügte, gab dem heran- wachſenden Geſchlechte eine feſte, in ſich übereinſtimmende Weltanſchauung. Die Durchſchnittsbildung der Mittelklaſſen fand ihren Frieden in dem Glauben, daß Gott nach den Naturgeſetzen wirke. Wolff ging mit Abſicht über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in weiten Kreiſen die Luſt zu denken und zu ſchreiben, gewöhnte die Gebildeten ihr Scherf- lein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung. Zugleich wirkte der Pietismus in der Geſellſchaft fort. Der rauhe Ton tyranniſcher Härte verſchwand aus dem Familienleben. In den gefühlsſeligen Con- ventikeln der ſchönen Seelen begann der Cultus der Perſönlichkeit. Das Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth und Inhalt; die Deutſchen erkannten wieder, wie reich die Welt des Herzens iſt, und wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunſt zu verſtehen.
Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianiſchen Staates und überraſchend ſtark wie ſie, traten die in langen Jahren der Samm- lung ſtill gereiften Kräfte des deutſchen Genius in den Kampf hinaus. Im Jahre 1747 erſchienen die erſten Geſänge von Klopſtocks Meſſias. Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage- büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0110"n="94"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.</fw><lb/>
Und doch erſcheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen den Jeſuitis-<lb/>
mus und das erſtarrte Lutherthum ebenſo bahnbrechend, ebenſo radical wie<lb/>
die politiſchen Thaten des Großen Kurfürſten. Sie haben den feſten Grund<lb/>
gelegt für Alles was wir heute deutſche Geiſtesfreiheit nennen. Aus<lb/>
den reiferen Werken von Leibnitz und Thomaſius, aus Pufendorfs Schrift<lb/>
über das Verhältniß von Staat und Kirche ſpricht ſchon der freie Geiſt<lb/>
einer unbedingten Duldung, welcher im Auslande weder Locke noch Bayle<lb/>
ganz zu folgen vermochte.</p><lb/><p>Dem nächſten Menſchenalter gebrach die ſchöpferiſche Kraft faſt völlig;<lb/>
es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die beſtimmenden Eindrücke<lb/>ſeiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwiſſerei beherrſchte den<lb/>
Markt der Gelehrſamkeit, und ihren weitſchweifigen Werken fehlte, was der<lb/>
Rheinsberger Muſenhof vor Allem ſchätzte, Maß, Schärfe, Beſtimmtheit<lb/>
des Ausdrucks. Gottſcheds Dichtung folgte ſklaviſch den ſteifen Regeln der<lb/>
franzöſiſchen Poetik, ohne ſich jemals aus breitſpuriger Plattheit zu dem<lb/>
redneriſchen Pathos der Romanen zu erheben. Kurſachſen war das einzige<lb/>
deutſche Land, das ſich geſchmackvoller Bildung und einer fruchtbaren künſtle-<lb/>
riſchen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern und die reichen<lb/>
Barock-Bauten des Dresdener Hofes bezeichnen nur eine phantaſtiſche<lb/>
Nachblüthe der wälſchen Kunſt, nicht einen Fortſchritt unſeres nationalen<lb/>
Lebens. Gleichwohl ſtand das Wachsthum des deutſchen Geiſtes auch jetzt<lb/>
nicht ſtill. Die gemeinfaßlichen Ergebniſſe der Gedankenarbeit der hoch-<lb/>
begabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig. Die<lb/>
Philoſophie Chriſtian Wolffs vollzog eine Verſöhnung zwiſchen Glauben und<lb/>
Wiſſen, welche den Bedürfniſſen des Zeitalters genügte, gab dem heran-<lb/>
wachſenden Geſchlechte eine feſte, in ſich übereinſtimmende Weltanſchauung.<lb/>
Die Durchſchnittsbildung der Mittelklaſſen fand ihren Frieden in dem<lb/>
Glauben, daß Gott nach den Naturgeſetzen wirke. Wolff ging mit Abſicht<lb/>
über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in weiten Kreiſen<lb/>
die Luſt zu denken und zu ſchreiben, gewöhnte die Gebildeten ihr Scherf-<lb/>
lein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung. Zugleich wirkte<lb/>
der Pietismus in der Geſellſchaft fort. Der rauhe Ton tyranniſcher<lb/>
Härte verſchwand aus dem Familienleben. In den gefühlsſeligen Con-<lb/>
ventikeln der ſchönen Seelen begann der Cultus der Perſönlichkeit. Das<lb/>
Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth und Inhalt;<lb/>
die Deutſchen erkannten wieder, wie reich die Welt des Herzens iſt, und<lb/>
wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunſt zu verſtehen.</p><lb/><p>Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianiſchen Staates<lb/>
und überraſchend ſtark wie ſie, traten die in langen Jahren der Samm-<lb/>
lung ſtill gereiften Kräfte des deutſchen Genius in den Kampf hinaus.<lb/>
Im Jahre 1747 erſchienen die erſten Geſänge von Klopſtocks Meſſias.<lb/>
Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage-<lb/>
büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[94/0110]
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Und doch erſcheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen den Jeſuitis-
mus und das erſtarrte Lutherthum ebenſo bahnbrechend, ebenſo radical wie
die politiſchen Thaten des Großen Kurfürſten. Sie haben den feſten Grund
gelegt für Alles was wir heute deutſche Geiſtesfreiheit nennen. Aus
den reiferen Werken von Leibnitz und Thomaſius, aus Pufendorfs Schrift
über das Verhältniß von Staat und Kirche ſpricht ſchon der freie Geiſt
einer unbedingten Duldung, welcher im Auslande weder Locke noch Bayle
ganz zu folgen vermochte.
Dem nächſten Menſchenalter gebrach die ſchöpferiſche Kraft faſt völlig;
es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die beſtimmenden Eindrücke
ſeiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwiſſerei beherrſchte den
Markt der Gelehrſamkeit, und ihren weitſchweifigen Werken fehlte, was der
Rheinsberger Muſenhof vor Allem ſchätzte, Maß, Schärfe, Beſtimmtheit
des Ausdrucks. Gottſcheds Dichtung folgte ſklaviſch den ſteifen Regeln der
franzöſiſchen Poetik, ohne ſich jemals aus breitſpuriger Plattheit zu dem
redneriſchen Pathos der Romanen zu erheben. Kurſachſen war das einzige
deutſche Land, das ſich geſchmackvoller Bildung und einer fruchtbaren künſtle-
riſchen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern und die reichen
Barock-Bauten des Dresdener Hofes bezeichnen nur eine phantaſtiſche
Nachblüthe der wälſchen Kunſt, nicht einen Fortſchritt unſeres nationalen
Lebens. Gleichwohl ſtand das Wachsthum des deutſchen Geiſtes auch jetzt
nicht ſtill. Die gemeinfaßlichen Ergebniſſe der Gedankenarbeit der hoch-
begabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig. Die
Philoſophie Chriſtian Wolffs vollzog eine Verſöhnung zwiſchen Glauben und
Wiſſen, welche den Bedürfniſſen des Zeitalters genügte, gab dem heran-
wachſenden Geſchlechte eine feſte, in ſich übereinſtimmende Weltanſchauung.
Die Durchſchnittsbildung der Mittelklaſſen fand ihren Frieden in dem
Glauben, daß Gott nach den Naturgeſetzen wirke. Wolff ging mit Abſicht
über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in weiten Kreiſen
die Luſt zu denken und zu ſchreiben, gewöhnte die Gebildeten ihr Scherf-
lein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung. Zugleich wirkte
der Pietismus in der Geſellſchaft fort. Der rauhe Ton tyranniſcher
Härte verſchwand aus dem Familienleben. In den gefühlsſeligen Con-
ventikeln der ſchönen Seelen begann der Cultus der Perſönlichkeit. Das
Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth und Inhalt;
die Deutſchen erkannten wieder, wie reich die Welt des Herzens iſt, und
wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunſt zu verſtehen.
Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianiſchen Staates
und überraſchend ſtark wie ſie, traten die in langen Jahren der Samm-
lung ſtill gereiften Kräfte des deutſchen Genius in den Kampf hinaus.
Im Jahre 1747 erſchienen die erſten Geſänge von Klopſtocks Meſſias.
Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage-
büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/110>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.