I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Füße; die Heidelberger Hochschule gab zuerst den Grundsatz der Glaubens- einheit auf. In Leibnitz erstand ein Denker, dessen behutsam vermitteln- der Geist innerlich schon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und der voraussetzungslosen Forschung der deutschen Philosophie die Bahnen brach; und bald durfte Thomasius frohlockend rufen: "Ungebundene Freiheit allein giebt dem Geiste das wahre Leben." Durch die Verwelt- lichung der Wissenschaften wurde die politische Macht der Kirchen all- mählich von innen heraus zerstört. Von der Herrschaft, welche die Oberhofprediger und Consistorien einst in den lutherischen Reichslanden besaßen, war um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr übrig; das neue Beamtenthum stand fest zu der Souveränität des Staates. Zugleich wagte Thomasius die deutsche Sprache in den aka- demischen Unterricht einzuführen, und seit alle protestantischen Hochschulen seinem Beispiele folgten, sah sich die lateinische Gelehrsamkeit der Jesuiten außer Stande, den Wettkampf mit der protestantischen Wissenschaft auf- zunehmen; wer im katholischen Deutschland nach lebendiger Bildung ver- langte, eilte den protestantischen Universitäten zu. Wenngleich der Zunft- stolz der Gelehrten, die Roheit der akademischen Jugend noch nicht gänz- lich überwunden wurde, die erste Brücke zwischen der Wissenschaft und dem Leben der Nation war doch geschlagen.
Zugleich brach für die evangelische Kirche ein neues Leben an, das in der jungen Hallischen Hochschule seinen Heerd fand und mit der duldsamen Kirchenpolitik des preußischen Staates fest zusammen- hing. Die Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenstreite des Zeitalters der Religionskriege. Die Unionsbestrebungen der Calixtiner, die fromme Glaubensinnigkeit der Pietisten und die rationalistische Kritik des Thomasius fanden sich zusammen im gemeinsamen Kampfe gegen die Herrschsucht des theologischen Buchstabenglaubens. Der über dem Gezänk der Glaubenseiferer fast vergessene sittliche Gehalt des Christenthums trat wieder in sein Recht, seit Franke und Spener ihre Gemeinden mahnten das Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe; der werkthätige Sinn christlicher Frömmigkeit bekundete sich in der großartigen Stiftung des Halli- schen Waisenhauses und anderen Werken der Barmherzigkeit; die Predigt des Pietismus sprach zum Herzen und erlaubte den Frauen, sich wieder als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen. Die Neubelebung des deutschen Protestantismus führte nicht wie die Bestrebungen der hollän- dischen Arminianer und der englischen Latitudinarier, zur Bildung neuer Sekten; sie ging vielmehr darauf aus den ganzen evangelischen Namen zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem Geiste des ursprünglichen Christen- thums zu durchdringen und das Wort zu erfüllen: "in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen." Nach manchen Kämpfen und Ver- irrungen blieb doch das dauernde Ergebniß, daß der deutsche Protestan- tismus die mildeste, freieste und weitherzigste aller christlichen Glaubens-
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Füße; die Heidelberger Hochſchule gab zuerſt den Grundſatz der Glaubens- einheit auf. In Leibnitz erſtand ein Denker, deſſen behutſam vermitteln- der Geiſt innerlich ſchon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und der vorausſetzungsloſen Forſchung der deutſchen Philoſophie die Bahnen brach; und bald durfte Thomaſius frohlockend rufen: „Ungebundene Freiheit allein giebt dem Geiſte das wahre Leben.“ Durch die Verwelt- lichung der Wiſſenſchaften wurde die politiſche Macht der Kirchen all- mählich von innen heraus zerſtört. Von der Herrſchaft, welche die Oberhofprediger und Conſiſtorien einſt in den lutheriſchen Reichslanden beſaßen, war um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr übrig; das neue Beamtenthum ſtand feſt zu der Souveränität des Staates. Zugleich wagte Thomaſius die deutſche Sprache in den aka- demiſchen Unterricht einzuführen, und ſeit alle proteſtantiſchen Hochſchulen ſeinem Beiſpiele folgten, ſah ſich die lateiniſche Gelehrſamkeit der Jeſuiten außer Stande, den Wettkampf mit der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft auf- zunehmen; wer im katholiſchen Deutſchland nach lebendiger Bildung ver- langte, eilte den proteſtantiſchen Univerſitäten zu. Wenngleich der Zunft- ſtolz der Gelehrten, die Roheit der akademiſchen Jugend noch nicht gänz- lich überwunden wurde, die erſte Brücke zwiſchen der Wiſſenſchaft und dem Leben der Nation war doch geſchlagen.
Zugleich brach für die evangeliſche Kirche ein neues Leben an, das in der jungen Halliſchen Hochſchule ſeinen Heerd fand und mit der duldſamen Kirchenpolitik des preußiſchen Staates feſt zuſammen- hing. Die Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenſtreite des Zeitalters der Religionskriege. Die Unionsbeſtrebungen der Calixtiner, die fromme Glaubensinnigkeit der Pietiſten und die rationaliſtiſche Kritik des Thomaſius fanden ſich zuſammen im gemeinſamen Kampfe gegen die Herrſchſucht des theologiſchen Buchſtabenglaubens. Der über dem Gezänk der Glaubenseiferer faſt vergeſſene ſittliche Gehalt des Chriſtenthums trat wieder in ſein Recht, ſeit Franke und Spener ihre Gemeinden mahnten das Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe; der werkthätige Sinn chriſtlicher Frömmigkeit bekundete ſich in der großartigen Stiftung des Halli- ſchen Waiſenhauſes und anderen Werken der Barmherzigkeit; die Predigt des Pietismus ſprach zum Herzen und erlaubte den Frauen, ſich wieder als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen. Die Neubelebung des deutſchen Proteſtantismus führte nicht wie die Beſtrebungen der hollän- diſchen Arminianer und der engliſchen Latitudinarier, zur Bildung neuer Sekten; ſie ging vielmehr darauf aus den ganzen evangeliſchen Namen zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem Geiſte des urſprünglichen Chriſten- thums zu durchdringen und das Wort zu erfüllen: „in meines Vaters Hauſe ſind viele Wohnungen.“ Nach manchen Kämpfen und Ver- irrungen blieb doch das dauernde Ergebniß, daß der deutſche Proteſtan- tismus die mildeſte, freieſte und weitherzigſte aller chriſtlichen Glaubens-
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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Füße; die Heidelberger Hochſchule gab zuerſt den Grundſatz der Glaubens-
einheit auf. In Leibnitz erſtand ein Denker, deſſen behutſam vermitteln-
der Geiſt innerlich ſchon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und
der vorausſetzungsloſen Forſchung der deutſchen Philoſophie die Bahnen
brach; und bald durfte Thomaſius frohlockend rufen: „Ungebundene
Freiheit allein giebt dem Geiſte das wahre Leben.“ Durch die Verwelt-
lichung der Wiſſenſchaften wurde die politiſche Macht der Kirchen all-
mählich von innen heraus zerſtört. Von der Herrſchaft, welche die
Oberhofprediger und Conſiſtorien einſt in den lutheriſchen Reichslanden
beſaßen, war um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr
übrig; das neue Beamtenthum ſtand feſt zu der Souveränität des
Staates. Zugleich wagte Thomaſius die deutſche Sprache in den aka-
demiſchen Unterricht einzuführen, und ſeit alle proteſtantiſchen Hochſchulen
ſeinem Beiſpiele folgten, ſah ſich die lateiniſche Gelehrſamkeit der Jeſuiten
außer Stande, den Wettkampf mit der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft auf-
zunehmen; wer im katholiſchen Deutſchland nach lebendiger Bildung ver-
langte, eilte den proteſtantiſchen Univerſitäten zu. Wenngleich der Zunft-
ſtolz der Gelehrten, die Roheit der akademiſchen Jugend noch nicht gänz-
lich überwunden wurde, die erſte Brücke zwiſchen der Wiſſenſchaft und
dem Leben der Nation war doch geſchlagen.
Zugleich brach für die evangeliſche Kirche ein neues Leben an,
das in der jungen Halliſchen Hochſchule ſeinen Heerd fand und mit
der duldſamen Kirchenpolitik des preußiſchen Staates feſt zuſammen-
hing. Die Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenſtreite des
Zeitalters der Religionskriege. Die Unionsbeſtrebungen der Calixtiner,
die fromme Glaubensinnigkeit der Pietiſten und die rationaliſtiſche Kritik
des Thomaſius fanden ſich zuſammen im gemeinſamen Kampfe gegen die
Herrſchſucht des theologiſchen Buchſtabenglaubens. Der über dem Gezänk
der Glaubenseiferer faſt vergeſſene ſittliche Gehalt des Chriſtenthums trat
wieder in ſein Recht, ſeit Franke und Spener ihre Gemeinden mahnten das
Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe; der werkthätige Sinn
chriſtlicher Frömmigkeit bekundete ſich in der großartigen Stiftung des Halli-
ſchen Waiſenhauſes und anderen Werken der Barmherzigkeit; die Predigt
des Pietismus ſprach zum Herzen und erlaubte den Frauen, ſich wieder
als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen. Die Neubelebung des
deutſchen Proteſtantismus führte nicht wie die Beſtrebungen der hollän-
diſchen Arminianer und der engliſchen Latitudinarier, zur Bildung neuer
Sekten; ſie ging vielmehr darauf aus den ganzen evangeliſchen Namen
zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem Geiſte des urſprünglichen Chriſten-
thums zu durchdringen und das Wort zu erfüllen: „in meines Vaters
Hauſe ſind viele Wohnungen.“ Nach manchen Kämpfen und Ver-
irrungen blieb doch das dauernde Ergebniß, daß der deutſche Proteſtan-
tismus die mildeſte, freieſte und weitherzigſte aller chriſtlichen Glaubens-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/108>, abgerufen am 23.07.2024.
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