I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Arbeit das Werk unsäglicher Mühen aufrechthalten konnte. Als aber die Tage der Schande und der Prüfung kamen, da hat Preußen wieder die langnachwirkende segenspendende Macht des Genius erfahren; die Erinnerung an Roßbach und Leuthen war die letzte sittliche Kraft, welche das lecke Schiff der deutschen Monarchie noch über dem Wasser hielt; und als der Staat dann nochmals die Waffen zum Verzweiflungskampfe hob, da sah ein süddeutscher Dichter die Gestalt des großen Königs aus den Wolken niedersteigen und dem Volke zurufen: "Auf, meine Preußen, unter meine Fahnen! und ihr sollt größer sein als eure Ahnen!" --
Unterdessen hatte das deutsche Volk mit einer jugendlichen Schnell- kraft, die in der langsamen Geschichte alter Völker einzig dasteht, eine Revolution seines geistigen Lebens vollendet: kaum vier Menschenalter nach der trostlosen Barbarei des dreißigjährigen Kriegs erschienen die schönsten Tage deutscher Kunst und Wissenschaft. Aus den starken Wurzeln der Glaubensfreiheit erwuchs eine neue weltlich freie Bildung, die den verknöcherten Formen der deutschen Gesellschaft ebenso feindlich gegenüber- stand wie der preußische Staat dem heiligen römischen Reiche. Bei allen anderen Völkern war die classische Literatur ein Kind der Macht und des Reichthums, die reife Frucht einer alten durchgebildeten nationalen Cultur; Deutschlands classische Dichtung hat ihr Volk erst wieder einge- führt in den Kreis der Culturvölker, ihm erst die Bahn gebrochen zu reinerer Gesittung. Niemals in aller Geschichte hat eine mächtige Literatur so gänzlich jeder Gunst der äußeren Lebensverhältnisse entbehrt. Hier bestand kein Hof, der die Kunst als eine Zierde seiner Krone hegte, kein großstädtisches Publikum, das den Dichter zugleich ermuthigen und in den Schranken einer überlieferten Kunstform halten konnte, kein schwung- hafter Handel und Gewerbfleiß, der dem Naturforscher fruchtbare Auf- gaben stellte, kein freies Staatsleben, das dem Historiker die Schule der Erfahrung bot; selbst die große Empfindung, die aus großen Erlebnissen stammt, kam den Deutschen erst durch Friedrichs Thaten. Recht eigentlich aus dem Herzen dieser Nation des Idealismus ward ihre neue Dichtung geboren, wie einst die Reformation aus dem guten deutschen Gewissen hervorging. Die Mittelklassen lebten dahin, fast gänzlich ausgeschlossen von der Leitung des Staates, eingepfercht in die Langeweile, den Zwang und die Armuth kleinstädtischen Treibens, und doch in so leidlich gesicherten wirthschaftlichen Verhältnissen, daß der Kampf um das Leben noch nicht das Leben selber dahinnahm und die wilde Jagd nach Erwerb und Genuß dem befriedeten Dasein noch völlig fremd blieb. Unter diesen unbegreiflich genügsamen Menschen erwacht nun die leidenschaftliche Sehnsucht nach dem Wahren und dem Schönen. Ihre guten Köpfe fühlen sich als freie
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Arbeit das Werk unſäglicher Mühen aufrechthalten konnte. Als aber die Tage der Schande und der Prüfung kamen, da hat Preußen wieder die langnachwirkende ſegenſpendende Macht des Genius erfahren; die Erinnerung an Roßbach und Leuthen war die letzte ſittliche Kraft, welche das lecke Schiff der deutſchen Monarchie noch über dem Waſſer hielt; und als der Staat dann nochmals die Waffen zum Verzweiflungskampfe hob, da ſah ein ſüddeutſcher Dichter die Geſtalt des großen Königs aus den Wolken niederſteigen und dem Volke zurufen: „Auf, meine Preußen, unter meine Fahnen! und ihr ſollt größer ſein als eure Ahnen!“ —
Unterdeſſen hatte das deutſche Volk mit einer jugendlichen Schnell- kraft, die in der langſamen Geſchichte alter Völker einzig daſteht, eine Revolution ſeines geiſtigen Lebens vollendet: kaum vier Menſchenalter nach der troſtloſen Barbarei des dreißigjährigen Kriegs erſchienen die ſchönſten Tage deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft. Aus den ſtarken Wurzeln der Glaubensfreiheit erwuchs eine neue weltlich freie Bildung, die den verknöcherten Formen der deutſchen Geſellſchaft ebenſo feindlich gegenüber- ſtand wie der preußiſche Staat dem heiligen römiſchen Reiche. Bei allen anderen Völkern war die claſſiſche Literatur ein Kind der Macht und des Reichthums, die reife Frucht einer alten durchgebildeten nationalen Cultur; Deutſchlands claſſiſche Dichtung hat ihr Volk erſt wieder einge- führt in den Kreis der Culturvölker, ihm erſt die Bahn gebrochen zu reinerer Geſittung. Niemals in aller Geſchichte hat eine mächtige Literatur ſo gänzlich jeder Gunſt der äußeren Lebensverhältniſſe entbehrt. Hier beſtand kein Hof, der die Kunſt als eine Zierde ſeiner Krone hegte, kein großſtädtiſches Publikum, das den Dichter zugleich ermuthigen und in den Schranken einer überlieferten Kunſtform halten konnte, kein ſchwung- hafter Handel und Gewerbfleiß, der dem Naturforſcher fruchtbare Auf- gaben ſtellte, kein freies Staatsleben, das dem Hiſtoriker die Schule der Erfahrung bot; ſelbſt die große Empfindung, die aus großen Erlebniſſen ſtammt, kam den Deutſchen erſt durch Friedrichs Thaten. Recht eigentlich aus dem Herzen dieſer Nation des Idealismus ward ihre neue Dichtung geboren, wie einſt die Reformation aus dem guten deutſchen Gewiſſen hervorging. Die Mittelklaſſen lebten dahin, faſt gänzlich ausgeſchloſſen von der Leitung des Staates, eingepfercht in die Langeweile, den Zwang und die Armuth kleinſtädtiſchen Treibens, und doch in ſo leidlich geſicherten wirthſchaftlichen Verhältniſſen, daß der Kampf um das Leben noch nicht das Leben ſelber dahinnahm und die wilde Jagd nach Erwerb und Genuß dem befriedeten Daſein noch völlig fremd blieb. Unter dieſen unbegreiflich genügſamen Menſchen erwacht nun die leidenſchaftliche Sehnſucht nach dem Wahren und dem Schönen. Ihre guten Köpfe fühlen ſich als freie
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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Arbeit das Werk unſäglicher Mühen aufrechthalten konnte. Als aber
die Tage der Schande und der Prüfung kamen, da hat Preußen wieder
die langnachwirkende ſegenſpendende Macht des Genius erfahren; die
Erinnerung an Roßbach und Leuthen war die letzte ſittliche Kraft, welche
das lecke Schiff der deutſchen Monarchie noch über dem Waſſer hielt; und
als der Staat dann nochmals die Waffen zum Verzweiflungskampfe hob,
da ſah ein ſüddeutſcher Dichter die Geſtalt des großen Königs aus den
Wolken niederſteigen und dem Volke zurufen: „Auf, meine Preußen, unter
meine Fahnen! und ihr ſollt größer ſein als eure Ahnen!“ —
Unterdeſſen hatte das deutſche Volk mit einer jugendlichen Schnell-
kraft, die in der langſamen Geſchichte alter Völker einzig daſteht, eine
Revolution ſeines geiſtigen Lebens vollendet: kaum vier Menſchenalter
nach der troſtloſen Barbarei des dreißigjährigen Kriegs erſchienen die
ſchönſten Tage deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft. Aus den ſtarken Wurzeln
der Glaubensfreiheit erwuchs eine neue weltlich freie Bildung, die den
verknöcherten Formen der deutſchen Geſellſchaft ebenſo feindlich gegenüber-
ſtand wie der preußiſche Staat dem heiligen römiſchen Reiche. Bei allen
anderen Völkern war die claſſiſche Literatur ein Kind der Macht und
des Reichthums, die reife Frucht einer alten durchgebildeten nationalen
Cultur; Deutſchlands claſſiſche Dichtung hat ihr Volk erſt wieder einge-
führt in den Kreis der Culturvölker, ihm erſt die Bahn gebrochen zu
reinerer Geſittung. Niemals in aller Geſchichte hat eine mächtige Literatur
ſo gänzlich jeder Gunſt der äußeren Lebensverhältniſſe entbehrt. Hier
beſtand kein Hof, der die Kunſt als eine Zierde ſeiner Krone hegte, kein
großſtädtiſches Publikum, das den Dichter zugleich ermuthigen und in
den Schranken einer überlieferten Kunſtform halten konnte, kein ſchwung-
hafter Handel und Gewerbfleiß, der dem Naturforſcher fruchtbare Auf-
gaben ſtellte, kein freies Staatsleben, das dem Hiſtoriker die Schule der
Erfahrung bot; ſelbſt die große Empfindung, die aus großen Erlebniſſen
ſtammt, kam den Deutſchen erſt durch Friedrichs Thaten. Recht eigentlich
aus dem Herzen dieſer Nation des Idealismus ward ihre neue Dichtung
geboren, wie einſt die Reformation aus dem guten deutſchen Gewiſſen
hervorging. Die Mittelklaſſen lebten dahin, faſt gänzlich ausgeſchloſſen von
der Leitung des Staates, eingepfercht in die Langeweile, den Zwang und
die Armuth kleinſtädtiſchen Treibens, und doch in ſo leidlich geſicherten
wirthſchaftlichen Verhältniſſen, daß der Kampf um das Leben noch nicht
das Leben ſelber dahinnahm und die wilde Jagd nach Erwerb und Genuß
dem befriedeten Daſein noch völlig fremd blieb. Unter dieſen unbegreiflich
genügſamen Menſchen erwacht nun die leidenſchaftliche Sehnſucht nach
dem Wahren und dem Schönen. Ihre guten Köpfe fühlen ſich als freie
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/102>, abgerufen am 28.11.2024.
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