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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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bringt wiederum die Götter sich näher, indem sie ihre Ge-
stalten sich abbildet und alle Tage betrachtet, wie sonst nur
den Laren des Hauses geschah, die nun allmählich immer
schattenhafter werden. Zugleich aber empfangen die Götter,
gleichsam vom Himmel herabgeholt, eine gedankenhaftere
Bedeutung; sie werden Vorbilder sittlicher Reinheit, Tüch-
tigkeit, Güte; ihre Priester werden Lehrer und Prediger
der Tugend. Hierdurch erst vollendet sich die Idee der
Religion. Ein solches Element wird aber um so nothwen-
diger, je mannigfacher und bunter das städtische Leben
wird, je mehr Verwandtschaft und Nachbarschaft als Gründe
freundwilliger Empfindung und Thätigkeit, wie auch inniger
Bekanntheit und gegenseitiger Scham, ihre Kraft einbüssen
oder auf engere Kreise einschränken. Um so lebhafter ist
die Anregung zur Kunst als einer priesterlichen Praxis;
denn das Gute und Edle, und in diesem Sinne Heilige,
muss mit Sinnen wahrgenommen werden, um auf Gedanken
und Gewissen zu wirken. Auch werden Handwerk und
Kunst wie ein religiöser Glaube, ja als Mysterium und
Dogma, durch Lehre und Beispiel fortgepflanzt; daher am
ehesten in der Familie sich erhaltend, den Söhnen über-
liefert, von Brüdern getheilt, und so knüpft wohl an einen
Ahnen und Erfinder der Kunst die Genossenschaft als ein
Clan sich an, der des gemeinsamen Erbes waltet, und stellt
als integrirendes Glied der Bürgerschaft ein "Amt" der
Stadt-Gemeinde dar. Indem aber die Gesammtheit von
Gewerken mehr und mehr das Wesen der Stadt constituirt,
gelangen sie dann wohl zu einer vollkommenen Freiheit
und Herrschaft in Bezug auf dieselbe; die Stadt wird zur
Hüterin ihres gemeinschaftlichen Friedens und der Ord-
nungen, in welchen derselbe als Organisation der Arbeit
nach innen und nach aussen sich geltend macht. Das sind
heilige Ordnungen von unmittelbarer sittlicher Bedeutung.
Die Zunft ist eine religiöse Gemeinde; so ist die Stadt
selber. Und diesem gemäss wird auch das gesammte wirth-
schaftliche
Dasein einer vollkommenen Stadt -- sei es,
dass wir in der hellenischen oder germanischen Welt dieselbe
suchen -- nicht verstanden werden, wenn nicht Kunst wie
Religion als höchste und wichtigste Angelegenheit der
ganzen Stadt, daher ihrer Regierung, ihrer Stände und

bringt wiederum die Götter sich näher, indem sie ihre Ge-
stalten sich abbildet und alle Tage betrachtet, wie sonst nur
den Laren des Hauses geschah, die nun allmählich immer
schattenhafter werden. Zugleich aber empfangen die Götter,
gleichsam vom Himmel herabgeholt, eine gedankenhaftere
Bedeutung; sie werden Vorbilder sittlicher Reinheit, Tüch-
tigkeit, Güte; ihre Priester werden Lehrer und Prediger
der Tugend. Hierdurch erst vollendet sich die Idee der
Religion. Ein solches Element wird aber um so nothwen-
diger, je mannigfacher und bunter das städtische Leben
wird, je mehr Verwandtschaft und Nachbarschaft als Gründe
freundwilliger Empfindung und Thätigkeit, wie auch inniger
Bekanntheit und gegenseitiger Scham, ihre Kraft einbüssen
oder auf engere Kreise einschränken. Um so lebhafter ist
die Anregung zur Kunst als einer priesterlichen Praxis;
denn das Gute und Edle, und in diesem Sinne Heilige,
muss mit Sinnen wahrgenommen werden, um auf Gedanken
und Gewissen zu wirken. Auch werden Handwerk und
Kunst wie ein religiöser Glaube, ja als Mysterium und
Dogma, durch Lehre und Beispiel fortgepflanzt; daher am
ehesten in der Familie sich erhaltend, den Söhnen über-
liefert, von Brüdern getheilt, und so knüpft wohl an einen
Ahnen und Erfinder der Kunst die Genossenschaft als ein
Clan sich an, der des gemeinsamen Erbes waltet, und stellt
als integrirendes Glied der Bürgerschaft ein »Amt« der
Stadt-Gemeinde dar. Indem aber die Gesammtheit von
Gewerken mehr und mehr das Wesen der Stadt constituirt,
gelangen sie dann wohl zu einer vollkommenen Freiheit
und Herrschaft in Bezug auf dieselbe; die Stadt wird zur
Hüterin ihres gemeinschaftlichen Friedens und der Ord-
nungen, in welchen derselbe als Organisation der Arbeit
nach innen und nach aussen sich geltend macht. Das sind
heilige Ordnungen von unmittelbarer sittlicher Bedeutung.
Die Zunft ist eine religiöse Gemeinde; so ist die Stadt
selber. Und diesem gemäss wird auch das gesammte wirth-
schaftliche
Dasein einer vollkommenen Stadt — sei es,
dass wir in der hellenischen oder germanischen Welt dieselbe
suchen — nicht verstanden werden, wenn nicht Kunst wie
Religion als höchste und wichtigste Angelegenheit der
ganzen Stadt, daher ihrer Regierung, ihrer Stände und

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[44/0080] bringt wiederum die Götter sich näher, indem sie ihre Ge- stalten sich abbildet und alle Tage betrachtet, wie sonst nur den Laren des Hauses geschah, die nun allmählich immer schattenhafter werden. Zugleich aber empfangen die Götter, gleichsam vom Himmel herabgeholt, eine gedankenhaftere Bedeutung; sie werden Vorbilder sittlicher Reinheit, Tüch- tigkeit, Güte; ihre Priester werden Lehrer und Prediger der Tugend. Hierdurch erst vollendet sich die Idee der Religion. Ein solches Element wird aber um so nothwen- diger, je mannigfacher und bunter das städtische Leben wird, je mehr Verwandtschaft und Nachbarschaft als Gründe freundwilliger Empfindung und Thätigkeit, wie auch inniger Bekanntheit und gegenseitiger Scham, ihre Kraft einbüssen oder auf engere Kreise einschränken. Um so lebhafter ist die Anregung zur Kunst als einer priesterlichen Praxis; denn das Gute und Edle, und in diesem Sinne Heilige, muss mit Sinnen wahrgenommen werden, um auf Gedanken und Gewissen zu wirken. Auch werden Handwerk und Kunst wie ein religiöser Glaube, ja als Mysterium und Dogma, durch Lehre und Beispiel fortgepflanzt; daher am ehesten in der Familie sich erhaltend, den Söhnen über- liefert, von Brüdern getheilt, und so knüpft wohl an einen Ahnen und Erfinder der Kunst die Genossenschaft als ein Clan sich an, der des gemeinsamen Erbes waltet, und stellt als integrirendes Glied der Bürgerschaft ein »Amt« der Stadt-Gemeinde dar. Indem aber die Gesammtheit von Gewerken mehr und mehr das Wesen der Stadt constituirt, gelangen sie dann wohl zu einer vollkommenen Freiheit und Herrschaft in Bezug auf dieselbe; die Stadt wird zur Hüterin ihres gemeinschaftlichen Friedens und der Ord- nungen, in welchen derselbe als Organisation der Arbeit nach innen und nach aussen sich geltend macht. Das sind heilige Ordnungen von unmittelbarer sittlicher Bedeutung. Die Zunft ist eine religiöse Gemeinde; so ist die Stadt selber. Und diesem gemäss wird auch das gesammte wirth- schaftliche Dasein einer vollkommenen Stadt — sei es, dass wir in der hellenischen oder germanischen Welt dieselbe suchen — nicht verstanden werden, wenn nicht Kunst wie Religion als höchste und wichtigste Angelegenheit der ganzen Stadt, daher ihrer Regierung, ihrer Stände und

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/80>, abgerufen am 22.11.2024.