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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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abhängigkeit von jener sich ausgebildet hat. Und so mögen
als durchaus verständliche Namen derselben neben einander
betrachtet werden 1) Verwandtschaft, 2) Nachbarschaft,
3) Freundschaft. Verwandtschaft hat das Haus als ihre
Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammen-
wohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer
Besitz und Genuss der meisten Dinge, insonderheit Ernährung
aus demselben Vorrathe, Zusammensitzen an demselben
Tische; hier werden die Todten als unsichtbare Geister
verehrt, als ob sie noch mächtig wären und über den Häup-
tern der Ihrigen schützend walteten, so dass die gemeinsame
Furcht und Ehre das friedliche Miteinander-Leben und
Wirken um so sicherer erhält. Der verwandtschaftliche
Wille und Geist ist an die Schranken des Hauses und
räumliche Nähe zwar nicht gebunden; sondern wo er stark
und lebendig ist, daher in den nächsten und engsten Be-
ziehungen, da kann er allein durch sich selber, am blossen
Gedächtniss sich nähren, trotz aller Entfernung mit dem
Gefühle und der Einbildung des Naheseins und gemein-
schaftlicher Thätigkeit. Aber um so mehr sucht er solche
leibliche Nähe und trennt sich schwer davon, weil nur so
jedes Verlangen der Liebe seine Ruhe und Gleichgewicht
finden kann. Darum findet sich der gewöhnliche Mensch --
auf die Dauer und im grossen Durchschnitt der Fälle --
am wohlsten und heitersten, wenn er von seiner Familie,
seinen Angehörigen umgeben ist. Er ist bei sich (chez soi).
-- Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zu-
sammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die
gemeinsame Feldmark oder auch blosse Begrenzung der
Aecker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung
an einander und vertraute Kenntniss von einander ver-
ursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung noth-
wendig macht; die Götter und Geister des Landes und
Wassers, welche Segen bringen und Unheil drohen, um
Gunst und Gnade anzuflehen veranlasst. Durch Zusammen-
wohnen wesentlich bedingt, kann diese Art der Gemeinschaft
doch auch in Abwesenheit sich erhalten, obschon schwerer
als die erste Art, und muss alsdann um so mehr in be-
stimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig ge-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 2

abhängigkeit von jener sich ausgebildet hat. Und so mögen
als durchaus verständliche Namen derselben neben einander
betrachtet werden 1) Verwandtschaft, 2) Nachbarschaft,
3) Freundschaft. Verwandtschaft hat das Haus als ihre
Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammen-
wohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer
Besitz und Genuss der meisten Dinge, insonderheit Ernährung
aus demselben Vorrathe, Zusammensitzen an demselben
Tische; hier werden die Todten als unsichtbare Geister
verehrt, als ob sie noch mächtig wären und über den Häup-
tern der Ihrigen schützend walteten, so dass die gemeinsame
Furcht und Ehre das friedliche Miteinander-Leben und
Wirken um so sicherer erhält. Der verwandtschaftliche
Wille und Geist ist an die Schranken des Hauses und
räumliche Nähe zwar nicht gebunden; sondern wo er stark
und lebendig ist, daher in den nächsten und engsten Be-
ziehungen, da kann er allein durch sich selber, am blossen
Gedächtniss sich nähren, trotz aller Entfernung mit dem
Gefühle und der Einbildung des Naheseins und gemein-
schaftlicher Thätigkeit. Aber um so mehr sucht er solche
leibliche Nähe und trennt sich schwer davon, weil nur so
jedes Verlangen der Liebe seine Ruhe und Gleichgewicht
finden kann. Darum findet sich der gewöhnliche Mensch —
auf die Dauer und im grossen Durchschnitt der Fälle —
am wohlsten und heitersten, wenn er von seiner Familie,
seinen Angehörigen umgeben ist. Er ist bei sich (chez soi).
Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zu-
sammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die
gemeinsame Feldmark oder auch blosse Begrenzung der
Aecker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung
an einander und vertraute Kenntniss von einander ver-
ursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung noth-
wendig macht; die Götter und Geister des Landes und
Wassers, welche Segen bringen und Unheil drohen, um
Gunst und Gnade anzuflehen veranlasst. Durch Zusammen-
wohnen wesentlich bedingt, kann diese Art der Gemeinschaft
doch auch in Abwesenheit sich erhalten, obschon schwerer
als die erste Art, und muss alsdann um so mehr in be-
stimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig ge-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 2
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[17/0053] abhängigkeit von jener sich ausgebildet hat. Und so mögen als durchaus verständliche Namen derselben neben einander betrachtet werden 1) Verwandtschaft, 2) Nachbarschaft, 3) Freundschaft. Verwandtschaft hat das Haus als ihre Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammen- wohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer Besitz und Genuss der meisten Dinge, insonderheit Ernährung aus demselben Vorrathe, Zusammensitzen an demselben Tische; hier werden die Todten als unsichtbare Geister verehrt, als ob sie noch mächtig wären und über den Häup- tern der Ihrigen schützend walteten, so dass die gemeinsame Furcht und Ehre das friedliche Miteinander-Leben und Wirken um so sicherer erhält. Der verwandtschaftliche Wille und Geist ist an die Schranken des Hauses und räumliche Nähe zwar nicht gebunden; sondern wo er stark und lebendig ist, daher in den nächsten und engsten Be- ziehungen, da kann er allein durch sich selber, am blossen Gedächtniss sich nähren, trotz aller Entfernung mit dem Gefühle und der Einbildung des Naheseins und gemein- schaftlicher Thätigkeit. Aber um so mehr sucht er solche leibliche Nähe und trennt sich schwer davon, weil nur so jedes Verlangen der Liebe seine Ruhe und Gleichgewicht finden kann. Darum findet sich der gewöhnliche Mensch — auf die Dauer und im grossen Durchschnitt der Fälle — am wohlsten und heitersten, wenn er von seiner Familie, seinen Angehörigen umgeben ist. Er ist bei sich (chez soi). — Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zu- sammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch blosse Begrenzung der Aecker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung an einander und vertraute Kenntniss von einander ver- ursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung noth- wendig macht; die Götter und Geister des Landes und Wassers, welche Segen bringen und Unheil drohen, um Gunst und Gnade anzuflehen veranlasst. Durch Zusammen- wohnen wesentlich bedingt, kann diese Art der Gemeinschaft doch auch in Abwesenheit sich erhalten, obschon schwerer als die erste Art, und muss alsdann um so mehr in be- stimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig ge- Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 2

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/53>, abgerufen am 25.11.2024.