den. Auch ihr kann, in der Theorie, zu grösserer Deut- lichkeit, ein Subject vorgesetzt und dasselbe als ein geisti- ger (geistlicher) Verband oder Verein; wenn als allgemeines gedacht: als geistiges (geistliches) Gemeinwesen, geistiger Staat unterschieden werden. Die Willensformen selber aber nenne ich: A) die gemeinschaftlichen: im Einzelnen Glaube, im Ganzen Religion, B) die gesellschaftlichen: im Einzel- nen Doctrin, im Ganzen öffentliche Meinung. Dies sind Mächte, denen weder durch menschliche Kräfte (phy- sische), noch durch äussere Dinge als Werkzeuge (Geld) sich geltend zu machen und durchzusetzen eigenthümlich ist, sondern allein durch Vorstellungen und Gedanken, welche in der Gehirnthätigkeit des Menschen zu sein und zu wirken bestimmt sind. Sie verhalten sich in ihren be- deutendsten socialen Actionen urtheilend, richtend, d. h. sie messen an sich oder an ihren Willens-Meinungen, Maximen und Regeln die Thaten und Handlungen, also den Willen derer, worauf sie sich beziehen; so auch, und insbesondere den Willen des Gemeinwesens, des Staates. So stellt sich Religion über das Gemeinwesen, öffentliche Meinung über den Staat. Religion beurtheilt die Sitte und Sitten oder Gebräuche als gut und richtig oder missbilligt sie als schlecht und falsch. Oeffentliche Meinung billigt Politik und Ge- setzgebung als richtig und klug oder verurtheilt sie als un- richtig und dumm. -- Glaube gehört wesentlich der Menge an und dem unteren Volke: in Kindern und Frauen ist er am meisten lebendig. Doctrin ist eine Sache, die nur Wenige zu begreifen, Wenigere zu ersinnen vermögen; und dies sind klügelnde, vornehm-kühle Individuen, Männer und Greise. Sie verhalten sich wie Poesie (in ihren Wur- zeln, als Stimmung zum Gesang, zur erzählenden Mitthei- lung, mimischen Darstellung) zur vollkommenen Prosa eines mathematischen Räsonnements oder anderer begrifflicher Com- binationen. -- Die Beziehung der Religion zum Familien- leben und zur Sitte ist schon angedeutet worden. Sie ist selber das Familienleben, insofern als die Theilnahme daran auf vorgestellte, der Phantasie gegenwärtige, treu-verwandte und befreundete Wesen erstreckt wird; und so von der einen Seite (der menschlichen) Ehrfurcht, mit frommen Gaben,
den. Auch ihr kann, in der Theorie, zu grösserer Deut- lichkeit, ein Subject vorgesetzt und dasselbe als ein geisti- ger (geistlicher) Verband oder Verein; wenn als allgemeines gedacht: als geistiges (geistliches) Gemeinwesen, geistiger Staat unterschieden werden. Die Willensformen selber aber nenne ich: A) die gemeinschaftlichen: im Einzelnen Glaube, im Ganzen Religion, B) die gesellschaftlichen: im Einzel- nen Doctrin, im Ganzen öffentliche Meinung. Dies sind Mächte, denen weder durch menschliche Kräfte (phy- sische), noch durch äussere Dinge als Werkzeuge (Geld) sich geltend zu machen und durchzusetzen eigenthümlich ist, sondern allein durch Vorstellungen und Gedanken, welche in der Gehirnthätigkeit des Menschen zu sein und zu wirken bestimmt sind. Sie verhalten sich in ihren be- deutendsten socialen Actionen urtheilend, richtend, d. h. sie messen an sich oder an ihren Willens-Meinungen, Maximen und Regeln die Thaten und Handlungen, also den Willen derer, worauf sie sich beziehen; so auch, und insbesondere den Willen des Gemeinwesens, des Staates. So stellt sich Religion über das Gemeinwesen, öffentliche Meinung über den Staat. Religion beurtheilt die Sitte und Sitten oder Gebräuche als gut und richtig oder missbilligt sie als schlecht und falsch. Oeffentliche Meinung billigt Politik und Ge- setzgebung als richtig und klug oder verurtheilt sie als un- richtig und dumm. — Glaube gehört wesentlich der Menge an und dem unteren Volke: in Kindern und Frauen ist er am meisten lebendig. Doctrin ist eine Sache, die nur Wenige zu begreifen, Wenigere zu ersinnen vermögen; und dies sind klügelnde, vornehm-kühle Individuen, Männer und Greise. Sie verhalten sich wie Poesie (in ihren Wur- zeln, als Stimmung zum Gesang, zur erzählenden Mitthei- lung, mimischen Darstellung) zur vollkommenen Prosa eines mathematischen Räsonnements oder anderer begrifflicher Com- binationen. — Die Beziehung der Religion zum Familien- leben und zur Sitte ist schon angedeutet worden. Sie ist selber das Familienleben, insofern als die Theilnahme daran auf vorgestellte, der Phantasie gegenwärtige, treu-verwandte und befreundete Wesen erstreckt wird; und so von der einen Seite (der menschlichen) Ehrfurcht, mit frommen Gaben,
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[268/0304]
den. Auch ihr kann, in der Theorie, zu grösserer Deut-
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ger (geistlicher) Verband oder Verein; wenn als allgemeines
gedacht: als geistiges (geistliches) Gemeinwesen, geistiger
Staat unterschieden werden. Die Willensformen selber aber
nenne ich: A) die gemeinschaftlichen: im Einzelnen Glaube,
im Ganzen Religion, B) die gesellschaftlichen: im Einzel-
nen Doctrin, im Ganzen öffentliche Meinung. Dies
sind Mächte, denen weder durch menschliche Kräfte (phy-
sische), noch durch äussere Dinge als Werkzeuge (Geld)
sich geltend zu machen und durchzusetzen eigenthümlich
ist, sondern allein durch Vorstellungen und Gedanken,
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deutendsten socialen Actionen urtheilend, richtend, d. h. sie
messen an sich oder an ihren Willens-Meinungen, Maximen
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derer, worauf sie sich beziehen; so auch, und insbesondere
den Willen des Gemeinwesens, des Staates. So stellt sich
Religion über das Gemeinwesen, öffentliche Meinung über
den Staat. Religion beurtheilt die Sitte und Sitten oder
Gebräuche als gut und richtig oder missbilligt sie als schlecht
und falsch. Oeffentliche Meinung billigt Politik und Ge-
setzgebung als richtig und klug oder verurtheilt sie als un-
richtig und dumm. — Glaube gehört wesentlich der
Menge an und dem unteren Volke: in Kindern und Frauen
ist er am meisten lebendig. Doctrin ist eine Sache, die
nur Wenige zu begreifen, Wenigere zu ersinnen vermögen;
und dies sind klügelnde, vornehm-kühle Individuen, Männer
und Greise. Sie verhalten sich wie Poesie (in ihren Wur-
zeln, als Stimmung zum Gesang, zur erzählenden Mitthei-
lung, mimischen Darstellung) zur vollkommenen Prosa eines
mathematischen Räsonnements oder anderer begrifflicher Com-
binationen. — Die Beziehung der Religion zum Familien-
leben und zur Sitte ist schon angedeutet worden. Sie ist
selber das Familienleben, insofern als die Theilnahme daran
auf vorgestellte, der Phantasie gegenwärtige, treu-verwandte
und befreundete Wesen erstreckt wird; und so von der einen
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/304>, abgerufen am 23.11.2024.
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