Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

tiven und begrifflichen Einheit sich zu retten vermag. Auf
dieselbe Weise aber, wie die Stadt zu ihrem Bunde, verhält
sich der Bürger, als freier und wehrhafter Mann, zu seiner
Stadt. Die Gesammtheit der Bürger schaut das bürgerliche
Gemeinwesen an als ihr Kunstwerk, als ihre Idee. Sie ver-
danken ihm ihre Freiheit, ihr Eigenthum und ihre Ehre; und
doch hat es selber sein Dasein nur durch ihre verbundenen,
vernünftigen Willen, wenn auch als ein nothwendiges, unwill-
kürliches Erzeugniss derselben. Wenn regelmässig der Wille
eines Gemeinwesens in seiner Versammlung durch Einen (den
Fürsten), durch Mehrere (die Vornehmen, Aeltesten) und
durch Viele (die Menge, das Volk) in ihrer Eintracht dar-
gestellt wird, so überwiegt in einem patriarchalischen und
weitesten Gemeinwesen der Monarch; in einem ländlichen,
engeren, der Adel; im städtischen und engsten das Volk.
Wenn ursprünglich jener das Haupt oder das Gehirn im
Haupte ausmacht, der Adel gleichsam die Ganglien des
Rückenmarks, und die Menge gleich den Centren des sym-
pathischen Systems gedacht wird, so wird hingegen endlich
diese, sich selber beherrschend, gleich dem Gehirn im wahr-
nehmenden und wollenden Körper die denkende Potenz und
kann als solche vollkommener werden, als die früheren, da
sie in ihrem leichten und häufigen Zusammensein schwereren
Problemen gegenübersteht, aber auch durch häufige Uebung
und Belehrung sich schärft, und um so mehr Wahrschein-
lichkeit hat, die höchste und edelste, politisch-künstlerische
Vernunft aus sich hervorzubringen. Aber die volle Maje-
stät
des Gemeinwesens geht erst aus der Uebereinstimmung
dieser drei Organe hervor, wenn auch in der empirischen
Erscheinung das eine überwiegen, das andere verkümmert
sein mag. Und freilich kann die Volksgemeinde über ihrer
jüngeren und besonderen Bedeutung, in welcher sie ein
coordinirter Factor ist, die ältere und allgemeine behalten,
vermöge deren sie die Gesammtheit und Substanz des Gemein-
wesens sichtbar darstellt, aus welcher also alle jene Centren
und Machtträger erst hervorgegangen sind, und dadurch be-
dingt werden. Aber so verstanden und in letzter Instanz,
besteht allerdings das Volk aus Allen, die irgendwie in
Gemeinschaft zusammenhängen und begreift Weiber, Kinder

tiven und begrifflichen Einheit sich zu retten vermag. Auf
dieselbe Weise aber, wie die Stadt zu ihrem Bunde, verhält
sich der Bürger, als freier und wehrhafter Mann, zu seiner
Stadt. Die Gesammtheit der Bürger schaut das bürgerliche
Gemeinwesen an als ihr Kunstwerk, als ihre Idee. Sie ver-
danken ihm ihre Freiheit, ihr Eigenthum und ihre Ehre; und
doch hat es selber sein Dasein nur durch ihre verbundenen,
vernünftigen Willen, wenn auch als ein nothwendiges, unwill-
kürliches Erzeugniss derselben. Wenn regelmässig der Wille
eines Gemeinwesens in seiner Versammlung durch Einen (den
Fürsten), durch Mehrere (die Vornehmen, Aeltesten) und
durch Viele (die Menge, das Volk) in ihrer Eintracht dar-
gestellt wird, so überwiegt in einem patriarchalischen und
weitesten Gemeinwesen der Monarch; in einem ländlichen,
engeren, der Adel; im städtischen und engsten das Volk.
Wenn ursprünglich jener das Haupt oder das Gehirn im
Haupte ausmacht, der Adel gleichsam die Ganglien des
Rückenmarks, und die Menge gleich den Centren des sym-
pathischen Systems gedacht wird, so wird hingegen endlich
diese, sich selber beherrschend, gleich dem Gehirn im wahr-
nehmenden und wollenden Körper die denkende Potenz und
kann als solche vollkommener werden, als die früheren, da
sie in ihrem leichten und häufigen Zusammensein schwereren
Problemen gegenübersteht, aber auch durch häufige Uebung
und Belehrung sich schärft, und um so mehr Wahrschein-
lichkeit hat, die höchste und edelste, politisch-künstlerische
Vernunft aus sich hervorzubringen. Aber die volle Maje-
stät
des Gemeinwesens geht erst aus der Uebereinstimmung
dieser drei Organe hervor, wenn auch in der empirischen
Erscheinung das eine überwiegen, das andere verkümmert
sein mag. Und freilich kann die Volksgemeinde über ihrer
jüngeren und besonderen Bedeutung, in welcher sie ein
coordinirter Factor ist, die ältere und allgemeine behalten,
vermöge deren sie die Gesammtheit und Substanz des Gemein-
wesens sichtbar darstellt, aus welcher also alle jene Centren
und Machtträger erst hervorgegangen sind, und dadurch be-
dingt werden. Aber so verstanden und in letzter Instanz,
besteht allerdings das Volk aus Allen, die irgendwie in
Gemeinschaft zusammenhängen und begreift Weiber, Kinder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0296" n="260"/>
tiven und begrifflichen Einheit sich zu retten vermag. Auf<lb/>
dieselbe Weise aber, wie die Stadt zu ihrem Bunde, verhält<lb/>
sich der Bürger, als freier und wehrhafter Mann, zu seiner<lb/>
Stadt. Die Gesammtheit der Bürger schaut das bürgerliche<lb/>
Gemeinwesen an als ihr Kunstwerk, als ihre Idee. Sie ver-<lb/>
danken ihm ihre Freiheit, ihr Eigenthum und ihre Ehre; und<lb/>
doch hat es selber sein Dasein nur durch ihre verbundenen,<lb/>
vernünftigen Willen, wenn auch als ein nothwendiges, unwill-<lb/>
kürliches Erzeugniss derselben. Wenn regelmässig der Wille<lb/>
eines Gemeinwesens in seiner Versammlung durch Einen (den<lb/>
Fürsten), durch Mehrere (die Vornehmen, Aeltesten) und<lb/>
durch Viele (die Menge, das Volk) in ihrer Eintracht dar-<lb/>
gestellt wird, so überwiegt in einem patriarchalischen und<lb/>
weitesten Gemeinwesen der Monarch; in einem ländlichen,<lb/>
engeren, der Adel; im städtischen und engsten das Volk.<lb/>
Wenn ursprünglich jener das Haupt oder das Gehirn im<lb/>
Haupte ausmacht, der Adel gleichsam die Ganglien des<lb/>
Rückenmarks, und die Menge gleich den Centren des sym-<lb/>
pathischen Systems gedacht wird, so wird hingegen endlich<lb/>
diese, sich selber beherrschend, gleich dem Gehirn im wahr-<lb/>
nehmenden und wollenden Körper die denkende Potenz und<lb/>
kann als solche vollkommener werden, als die früheren, da<lb/>
sie in ihrem leichten und häufigen Zusammensein schwereren<lb/>
Problemen gegenübersteht, aber auch durch häufige Uebung<lb/>
und Belehrung sich schärft, und um so mehr Wahrschein-<lb/>
lichkeit hat, die höchste und edelste, politisch-künstlerische<lb/>
Vernunft aus sich hervorzubringen. Aber die volle <hi rendition="#g">Maje-<lb/>
stät</hi> des Gemeinwesens geht erst aus der Uebereinstimmung<lb/>
dieser drei Organe hervor, wenn auch in der empirischen<lb/>
Erscheinung das eine überwiegen, das andere verkümmert<lb/>
sein mag. Und freilich kann die Volksgemeinde über ihrer<lb/>
jüngeren und besonderen Bedeutung, in welcher sie ein<lb/>
coordinirter Factor ist, die ältere und allgemeine behalten,<lb/>
vermöge deren sie die Gesammtheit und Substanz des Gemein-<lb/>
wesens sichtbar darstellt, aus welcher also alle jene Centren<lb/>
und Machtträger erst hervorgegangen sind, und dadurch be-<lb/>
dingt werden. Aber so verstanden und in letzter Instanz,<lb/>
besteht allerdings das Volk aus <hi rendition="#g">Allen</hi>, die irgendwie in<lb/>
Gemeinschaft zusammenhängen und begreift Weiber, Kinder<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0296] tiven und begrifflichen Einheit sich zu retten vermag. Auf dieselbe Weise aber, wie die Stadt zu ihrem Bunde, verhält sich der Bürger, als freier und wehrhafter Mann, zu seiner Stadt. Die Gesammtheit der Bürger schaut das bürgerliche Gemeinwesen an als ihr Kunstwerk, als ihre Idee. Sie ver- danken ihm ihre Freiheit, ihr Eigenthum und ihre Ehre; und doch hat es selber sein Dasein nur durch ihre verbundenen, vernünftigen Willen, wenn auch als ein nothwendiges, unwill- kürliches Erzeugniss derselben. Wenn regelmässig der Wille eines Gemeinwesens in seiner Versammlung durch Einen (den Fürsten), durch Mehrere (die Vornehmen, Aeltesten) und durch Viele (die Menge, das Volk) in ihrer Eintracht dar- gestellt wird, so überwiegt in einem patriarchalischen und weitesten Gemeinwesen der Monarch; in einem ländlichen, engeren, der Adel; im städtischen und engsten das Volk. Wenn ursprünglich jener das Haupt oder das Gehirn im Haupte ausmacht, der Adel gleichsam die Ganglien des Rückenmarks, und die Menge gleich den Centren des sym- pathischen Systems gedacht wird, so wird hingegen endlich diese, sich selber beherrschend, gleich dem Gehirn im wahr- nehmenden und wollenden Körper die denkende Potenz und kann als solche vollkommener werden, als die früheren, da sie in ihrem leichten und häufigen Zusammensein schwereren Problemen gegenübersteht, aber auch durch häufige Uebung und Belehrung sich schärft, und um so mehr Wahrschein- lichkeit hat, die höchste und edelste, politisch-künstlerische Vernunft aus sich hervorzubringen. Aber die volle Maje- stät des Gemeinwesens geht erst aus der Uebereinstimmung dieser drei Organe hervor, wenn auch in der empirischen Erscheinung das eine überwiegen, das andere verkümmert sein mag. Und freilich kann die Volksgemeinde über ihrer jüngeren und besonderen Bedeutung, in welcher sie ein coordinirter Factor ist, die ältere und allgemeine behalten, vermöge deren sie die Gesammtheit und Substanz des Gemein- wesens sichtbar darstellt, aus welcher also alle jene Centren und Machtträger erst hervorgegangen sind, und dadurch be- dingt werden. Aber so verstanden und in letzter Instanz, besteht allerdings das Volk aus Allen, die irgendwie in Gemeinschaft zusammenhängen und begreift Weiber, Kinder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/296
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/296>, abgerufen am 23.11.2024.