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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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richtiger und vernünftiger sei. Das Allgemeine in der
früheren Bed eutung setzt eine Rechts-Ordnung voraus, als
ebenso über Menschen waltend, wie die römische Rechts-
ordnung über römischen Bürgern. Aber auch in der spä-
teren Bedeutung kann das gemeine Recht als eine Ordnung
verstanden werden, welche nur nicht als ein Recht gewill-
kürt und gewusst werde, sondern im menschlichen Herzen
als Gefühl für das Nothwendige und Gute, als Widerwille
wohne gegen den Greuel, d. h. als Gesetz des Gewissens.
"Es ist dieses Gesetz nicht geschrieben, sondern geboren, wel-
ches wir nicht gelernt, angenommen, gelesen, sondern aus der
Natur selber empfangen, geschöpft, uns eingeprägt haben,
wozu wir nicht gelehrt, sondern geschaffen, nicht gebildet,
sondern begabt worden sind," sagt der rhetorische Ausdruck
Cicero's (p. Mil. c. X). So hat den Instinct der Mutterliebe
Thier und Mensch; der Mensch hat aber zu dem Instincte
dessen Ausbildung in Pflichtgefühl; und so ist Mutter-Recht
gemeines Recht. Das uneheliche Kind gehört zur Mutter
und folgt ihrem Stande. Diese Ordnung ist in Geboten und
Verboten ehrwürdiger und wichtiger; sie hat grössere mo-
ralische
Bedeutung. So ist Incest nach gemeinem Recht
verboten und ein Greuel; uneheliche Verbindung anderer
Art ist hauptsächlich wegen seiner mangelhaften Folgen im
heiligen Rechte vom Uebel. Denn jenes Naturrecht ist zu-
gleich heiliges und göttliches Recht und steht unter priester-
licher Verwaltung. Ein Anderes ist es, wenn die Analogie
des bürgerlichen Rechtes auf eine unbegrenzte Sphäre, um
zum Weltrecht zu werden, ausgedehnt wird, nachdem in
dem Wesen jenes die Nabelschnur, welche es mit dem seiner
Natur nach früheren und ihm gleichsam mütterlichen ge-
meinen Rechte verband, ist durchschnitten worden (oder in-
dem der eine Process die Function des anderen ist). Denn
nunmehr ist das bürgerliche Recht nur eine zufällige Be-
schränkung, welche sich die dahinter latirende, empirisch-
wirkliche Freiheit von Menschen (die metaphysische Freiheit
des Willens) gesetzt hat und fortwährend setzt und auch
zerstören kann, wie ja zwei Contrahenten das, was sie obli-
girt, auch auflösen können. Zufällig ist jede besondere
Ordnung; nothwendig ist nur eine Ordnung überhaupt,

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 16

richtiger und vernünftiger sei. Das Allgemeine in der
früheren Bed eutung setzt eine Rechts-Ordnung voraus, als
ebenso über Menschen waltend, wie die römische Rechts-
ordnung über römischen Bürgern. Aber auch in der spä-
teren Bedeutung kann das gemeine Recht als eine Ordnung
verstanden werden, welche nur nicht als ein Recht gewill-
kürt und gewusst werde, sondern im menschlichen Herzen
als Gefühl für das Nothwendige und Gute, als Widerwille
wohne gegen den Greuel, d. h. als Gesetz des Gewissens.
»Es ist dieses Gesetz nicht geschrieben, sondern geboren, wel-
ches wir nicht gelernt, angenommen, gelesen, sondern aus der
Natur selber empfangen, geschöpft, uns eingeprägt haben,
wozu wir nicht gelehrt, sondern geschaffen, nicht gebildet,
sondern begabt worden sind,« sagt der rhetorische Ausdruck
Cicero’s (p. Mil. c. X). So hat den Instinct der Mutterliebe
Thier und Mensch; der Mensch hat aber zu dem Instincte
dessen Ausbildung in Pflichtgefühl; und so ist Mutter-Recht
gemeines Recht. Das uneheliche Kind gehört zur Mutter
und folgt ihrem Stande. Diese Ordnung ist in Geboten und
Verboten ehrwürdiger und wichtiger; sie hat grössere mo-
ralische
Bedeutung. So ist Incest nach gemeinem Recht
verboten und ein Greuel; uneheliche Verbindung anderer
Art ist hauptsächlich wegen seiner mangelhaften Folgen im
heiligen Rechte vom Uebel. Denn jenes Naturrecht ist zu-
gleich heiliges und göttliches Recht und steht unter priester-
licher Verwaltung. Ein Anderes ist es, wenn die Analogie
des bürgerlichen Rechtes auf eine unbegrenzte Sphäre, um
zum Weltrecht zu werden, ausgedehnt wird, nachdem in
dem Wesen jenes die Nabelschnur, welche es mit dem seiner
Natur nach früheren und ihm gleichsam mütterlichen ge-
meinen Rechte verband, ist durchschnitten worden (oder in-
dem der eine Process die Function des anderen ist). Denn
nunmehr ist das bürgerliche Recht nur eine zufällige Be-
schränkung, welche sich die dahinter latirende, empirisch-
wirkliche Freiheit von Menschen (die metaphysische Freiheit
des Willens) gesetzt hat und fortwährend setzt und auch
zerstören kann, wie ja zwei Contrahenten das, was sie obli-
girt, auch auflösen können. Zufällig ist jede besondere
Ordnung; nothwendig ist nur eine Ordnung überhaupt,

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 16
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[241/0277] richtiger und vernünftiger sei. Das Allgemeine in der früheren Bed eutung setzt eine Rechts-Ordnung voraus, als ebenso über Menschen waltend, wie die römische Rechts- ordnung über römischen Bürgern. Aber auch in der spä- teren Bedeutung kann das gemeine Recht als eine Ordnung verstanden werden, welche nur nicht als ein Recht gewill- kürt und gewusst werde, sondern im menschlichen Herzen als Gefühl für das Nothwendige und Gute, als Widerwille wohne gegen den Greuel, d. h. als Gesetz des Gewissens. »Es ist dieses Gesetz nicht geschrieben, sondern geboren, wel- ches wir nicht gelernt, angenommen, gelesen, sondern aus der Natur selber empfangen, geschöpft, uns eingeprägt haben, wozu wir nicht gelehrt, sondern geschaffen, nicht gebildet, sondern begabt worden sind,« sagt der rhetorische Ausdruck Cicero’s (p. Mil. c. X). So hat den Instinct der Mutterliebe Thier und Mensch; der Mensch hat aber zu dem Instincte dessen Ausbildung in Pflichtgefühl; und so ist Mutter-Recht gemeines Recht. Das uneheliche Kind gehört zur Mutter und folgt ihrem Stande. Diese Ordnung ist in Geboten und Verboten ehrwürdiger und wichtiger; sie hat grössere mo- ralische Bedeutung. So ist Incest nach gemeinem Recht verboten und ein Greuel; uneheliche Verbindung anderer Art ist hauptsächlich wegen seiner mangelhaften Folgen im heiligen Rechte vom Uebel. Denn jenes Naturrecht ist zu- gleich heiliges und göttliches Recht und steht unter priester- licher Verwaltung. Ein Anderes ist es, wenn die Analogie des bürgerlichen Rechtes auf eine unbegrenzte Sphäre, um zum Weltrecht zu werden, ausgedehnt wird, nachdem in dem Wesen jenes die Nabelschnur, welche es mit dem seiner Natur nach früheren und ihm gleichsam mütterlichen ge- meinen Rechte verband, ist durchschnitten worden (oder in- dem der eine Process die Function des anderen ist). Denn nunmehr ist das bürgerliche Recht nur eine zufällige Be- schränkung, welche sich die dahinter latirende, empirisch- wirkliche Freiheit von Menschen (die metaphysische Freiheit des Willens) gesetzt hat und fortwährend setzt und auch zerstören kann, wie ja zwei Contrahenten das, was sie obli- girt, auch auflösen können. Zufällig ist jede besondere Ordnung; nothwendig ist nur eine Ordnung überhaupt, Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 16

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/277>, abgerufen am 27.11.2024.