Der Typus aller gemeinschaftlichen "Verbindungen" ist die Familie selber, in allen ihren Gestaltungen. Der Mensch findet sich in dieselben hineingeboren; er kann zwar das Verbleiben darin, aber keineswegs die Begründung sol- ches Verhältnisses als aus seiner willkürlichen Freiheit er- folgend mit irgendwelchem Sinne denken. Wenn wir zu- rückgreifen auf die drei unterschiedenen Fundamente aller Gemeinschaft: das des Blutes, des Landes und des Geistes -- oder: Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft -- so sind in der Familie alle zugleich, aber das erste als ihr Wesen constituirend. Die gemeinschaftlichen "Bündnisse" werden am vollkommensten als Freundschaften aufgefasst; die Gemeinschaft des Geistes beruhend auf gemeinsamem Werk oder Beruf, und so auf gemeinsamem Glauben. Es gibt aber auch Verbindungen, die selber in der Gemeinschaft des Geistes ihren hauptsächlichen Inhalt haben, und aus freiem Willen nicht blos gehalten, sondern auch geschlossen werden: von solcher Art sind vorzüglich die Corporationen oder Genossenschaften der Kunst und des Handwerks, die Gemeinden oder Brüderschaften der Religion oder eines be- stimmten Cultuszweckes: Gilden, Zünfte, Kirchen, Orden; in allen diesen bleibt aber Typus und Idee der Familie erhalten. Als Urbild der gemeinschaftlichen Bündnisse kann aber das Verhältniss von Herren und Knecht, besser: von Meister und Jünger, in unserer Betrachtung verharren; zumal inwiefern es von einer jener Verbindungen als von einem wirk- lichen oder ideellen Hause überdacht bleibt. Zwischen Verbindung und Bündniss stehen viele wichtige Verhältnisse, unter welchen das wichtigste die Ehe ist, als welche einer- seits die Basis neuer Familie darstellt, andererseits durch freie Einigung des Mannes und Weibes gestiftet zu werden scheint, welche doch nur aus der Idee und dem Geiste der Familie begriffen werden kann. Die Ehe in ihrem mora- lischen Sinne, d. i. die einfache Ehe (Monogamie), kann als vollkommene Nachbarschaft definirt werden; das Zu- sammen-Wohnen, die beständige leibliche Nähe, Gemeinsam- keit täglicher und nächtlicher Stätte, Tisches und Bettes macht ihr ganzes Wesen aus; ihre Willenssphären und Ge- biete grenzen nicht an einander, sondern sind wesentlich
Der Typus aller gemeinschaftlichen »Verbindungen« ist die Familie selber, in allen ihren Gestaltungen. Der Mensch findet sich in dieselben hineingeboren; er kann zwar das Verbleiben darin, aber keineswegs die Begründung sol- ches Verhältnisses als aus seiner willkürlichen Freiheit er- folgend mit irgendwelchem Sinne denken. Wenn wir zu- rückgreifen auf die drei unterschiedenen Fundamente aller Gemeinschaft: das des Blutes, des Landes und des Geistes — oder: Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft — so sind in der Familie alle zugleich, aber das erste als ihr Wesen constituirend. Die gemeinschaftlichen »Bündnisse« werden am vollkommensten als Freundschaften aufgefasst; die Gemeinschaft des Geistes beruhend auf gemeinsamem Werk oder Beruf, und so auf gemeinsamem Glauben. Es gibt aber auch Verbindungen, die selber in der Gemeinschaft des Geistes ihren hauptsächlichen Inhalt haben, und aus freiem Willen nicht blos gehalten, sondern auch geschlossen werden: von solcher Art sind vorzüglich die Corporationen oder Genossenschaften der Kunst und des Handwerks, die Gemeinden oder Brüderschaften der Religion oder eines be- stimmten Cultuszweckes: Gilden, Zünfte, Kirchen, Orden; in allen diesen bleibt aber Typus und Idee der Familie erhalten. Als Urbild der gemeinschaftlichen Bündnisse kann aber das Verhältniss von Herren und Knecht, besser: von Meister und Jünger, in unserer Betrachtung verharren; zumal inwiefern es von einer jener Verbindungen als von einem wirk- lichen oder ideellen Hause überdacht bleibt. Zwischen Verbindung und Bündniss stehen viele wichtige Verhältnisse, unter welchen das wichtigste die Ehe ist, als welche einer- seits die Basis neuer Familie darstellt, andererseits durch freie Einigung des Mannes und Weibes gestiftet zu werden scheint, welche doch nur aus der Idee und dem Geiste der Familie begriffen werden kann. Die Ehe in ihrem mora- lischen Sinne, d. i. die einfache Ehe (Monogamie), kann als vollkommene Nachbarschaft definirt werden; das Zu- sammen-Wohnen, die beständige leibliche Nähe, Gemeinsam- keit täglicher und nächtlicher Stätte, Tisches und Bettes macht ihr ganzes Wesen aus; ihre Willenssphären und Ge- biete grenzen nicht an einander, sondern sind wesentlich
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Der Typus aller gemeinschaftlichen »Verbindungen« ist die
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ches Verhältnisses als aus seiner willkürlichen Freiheit er-
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rückgreifen auf die drei unterschiedenen Fundamente aller
Gemeinschaft: das des Blutes, des Landes und des Geistes
— oder: Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft —
so sind in der Familie alle zugleich, aber das erste als ihr
Wesen constituirend. Die gemeinschaftlichen »Bündnisse«
werden am vollkommensten als Freundschaften aufgefasst;
die Gemeinschaft des Geistes beruhend auf gemeinsamem
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gibt aber auch Verbindungen, die selber in der Gemeinschaft
des Geistes ihren hauptsächlichen Inhalt haben, und aus
freiem Willen nicht blos gehalten, sondern auch geschlossen
werden: von solcher Art sind vorzüglich die Corporationen
oder Genossenschaften der Kunst und des Handwerks, die
Gemeinden oder Brüderschaften der Religion oder eines be-
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allen diesen bleibt aber Typus und Idee der Familie erhalten.
Als Urbild der gemeinschaftlichen Bündnisse kann aber
das Verhältniss von Herren und Knecht, besser: von Meister
und Jünger, in unserer Betrachtung verharren; zumal inwiefern
es von einer jener Verbindungen als von einem wirk-
lichen oder ideellen Hause überdacht bleibt. Zwischen
Verbindung und Bündniss stehen viele wichtige Verhältnisse,
unter welchen das wichtigste die Ehe ist, als welche einer-
seits die Basis neuer Familie darstellt, andererseits durch
freie Einigung des Mannes und Weibes gestiftet zu werden
scheint, welche doch nur aus der Idee und dem Geiste der
Familie begriffen werden kann. Die Ehe in ihrem mora-
lischen Sinne, d. i. die einfache Ehe (Monogamie), kann als
vollkommene Nachbarschaft definirt werden; das Zu-
sammen-Wohnen, die beständige leibliche Nähe, Gemeinsam-
keit täglicher und nächtlicher Stätte, Tisches und Bettes
macht ihr ganzes Wesen aus; ihre Willenssphären und Ge-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/264>, abgerufen am 25.11.2024.
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