Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

der freien Arbeit im häuslichen Kreise, innerhalb sittlicher
Schranken, für die Familie selbst" (K. Marx, d. Kapital 1.
Kap. 13, 3 a)
. Wie sich das kindliche, überhaupt jugend-
liche Gemüth zur Wissenschaft verhalte, ist einleuchtend
genug. Es gehört eine gewisse Trockenheit der Phantasie
dazu, welcher freilich die energische Anspannung der vor-
handenen
Kräfte helfen kann, um mathematische
Schemata und Formeln zu begreifen; die Mathematik aber
ist Urbild aller wirklichen Wissenschaft, die ihrer innersten
Natur nach willkürlich-künstlich ist. Auch stellt in einigem
Maasse der (ob zwar zu grossem Theile blos den Phrasen
nach) "wissenschaftliche" Unterricht, welchen die Jugend
zumal der höheren d. i. der kapitalistischen Klassen durch
Civilisation erhält, auf ihrer Seite als eine Art von Zwangs-
arbeit sich dar, wodurch leicht die besten Keime eigenthüm-
lichen Geistes in ihnen verkrüppeln, ihr Gemüth erkältet
und ihr Gewissen verhärtet wird; während doch dergleichen
seiner eigentlichen Natur nach Musik und Gymnastik, d. h.
eine harmonische Ausbildung des ganzen Menschen (des
Leibes und der Seele) sein will, so ist oder wird es jene
besondere und einseitige Erziehung des Gedächtnisses,
welche zur Willkür gewandt macht, als zur bewussten An-
wendung eingeprägter Regeln, und mit Worten, Sätzen, ja
sogar Methoden auf mechanische Weise operiren lehrt; wie
denn aber in der That solche gedrillte, gleichgültig-über-
legene, abgebrühte Menschen in den meisten jener Be-
schäftigungen gefordert werden, oder doch am meisten
brauchbar sind, welchen solche Jugend im Dienste der
Gesellschaft oder des Staates (als der personificirten Ge-
sellschaft) sich hinzugeben geneigt oder genöthigt ist. In
allen diesen Rücksichten aber sind in Willen und Anlagen
des gereiften Mannes die Widerstände um so eher ver-
schwunden oder gering geworden, je mehr sie schon ur-
sprünglich schwach waren und je mehr durch den Verlauf
des Lebens ihre Kraft gebrochen wurde. In jeder Hinsicht
ist er der tüchtige gesellschaftliche Mensch, sei es
dass er als freien Herrn seines Vermögens oder nur seiner
Arbeitskraft und anderer Leistungsfähigkeit sich erkenne,
immer ein Strebender, Berechnender, Meinungen kritisch

der freien Arbeit im häuslichen Kreise, innerhalb sittlicher
Schranken, für die Familie selbst« (K. Marx, d. Kapital 1.
Kap. 13, 3 a)
. Wie sich das kindliche, überhaupt jugend-
liche Gemüth zur Wissenschaft verhalte, ist einleuchtend
genug. Es gehört eine gewisse Trockenheit der Phantasie
dazu, welcher freilich die energische Anspannung der vor-
handenen
Kräfte helfen kann, um mathematische
Schemata und Formeln zu begreifen; die Mathematik aber
ist Urbild aller wirklichen Wissenschaft, die ihrer innersten
Natur nach willkürlich-künstlich ist. Auch stellt in einigem
Maasse der (ob zwar zu grossem Theile blos den Phrasen
nach) »wissenschaftliche« Unterricht, welchen die Jugend
zumal der höheren d. i. der kapitalistischen Klassen durch
Civilisation erhält, auf ihrer Seite als eine Art von Zwangs-
arbeit sich dar, wodurch leicht die besten Keime eigenthüm-
lichen Geistes in ihnen verkrüppeln, ihr Gemüth erkältet
und ihr Gewissen verhärtet wird; während doch dergleichen
seiner eigentlichen Natur nach Musik und Gymnastik, d. h.
eine harmonische Ausbildung des ganzen Menschen (des
Leibes und der Seele) sein will, so ist oder wird es jene
besondere und einseitige Erziehung des Gedächtnisses,
welche zur Willkür gewandt macht, als zur bewussten An-
wendung eingeprägter Regeln, und mit Worten, Sätzen, ja
sogar Methoden auf mechanische Weise operiren lehrt; wie
denn aber in der That solche gedrillte, gleichgültig-über-
legene, abgebrühte Menschen in den meisten jener Be-
schäftigungen gefordert werden, oder doch am meisten
brauchbar sind, welchen solche Jugend im Dienste der
Gesellschaft oder des Staates (als der personificirten Ge-
sellschaft) sich hinzugeben geneigt oder genöthigt ist. In
allen diesen Rücksichten aber sind in Willen und Anlagen
des gereiften Mannes die Widerstände um so eher ver-
schwunden oder gering geworden, je mehr sie schon ur-
sprünglich schwach waren und je mehr durch den Verlauf
des Lebens ihre Kraft gebrochen wurde. In jeder Hinsicht
ist er der tüchtige gesellschaftliche Mensch, sei es
dass er als freien Herrn seines Vermögens oder nur seiner
Arbeitskraft und anderer Leistungsfähigkeit sich erkenne,
immer ein Strebender, Berechnender, Meinungen kritisch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0226" n="190"/>
der freien Arbeit im häuslichen Kreise, innerhalb sittlicher<lb/>
Schranken, für die Familie selbst« (K. <hi rendition="#k">Marx</hi>, <hi rendition="#i">d. Kapital 1.<lb/>
Kap. 13, 3 a)</hi>. Wie sich das kindliche, überhaupt jugend-<lb/>
liche Gemüth zur Wissenschaft verhalte, ist einleuchtend<lb/>
genug. Es gehört eine gewisse Trockenheit der Phantasie<lb/>
dazu, welcher freilich die energische Anspannung der <hi rendition="#g">vor-<lb/>
handenen</hi> Kräfte helfen kann, um <hi rendition="#g">mathematische</hi><lb/>
Schemata und Formeln zu begreifen; die Mathematik aber<lb/>
ist Urbild aller wirklichen Wissenschaft, die ihrer innersten<lb/>
Natur nach willkürlich-künstlich ist. Auch stellt in einigem<lb/>
Maasse der (ob zwar zu grossem Theile blos den Phrasen<lb/>
nach) »wissenschaftliche« Unterricht, welchen die Jugend<lb/>
zumal der höheren d. i. der kapitalistischen Klassen durch<lb/>
Civilisation erhält, auf ihrer Seite als eine Art von Zwangs-<lb/>
arbeit sich dar, wodurch leicht die besten Keime eigenthüm-<lb/>
lichen Geistes in ihnen verkrüppeln, ihr Gemüth erkältet<lb/>
und ihr Gewissen verhärtet wird; während doch dergleichen<lb/>
seiner eigentlichen Natur nach Musik und Gymnastik, d. h.<lb/>
eine harmonische Ausbildung des <hi rendition="#g">ganzen</hi> Menschen (des<lb/>
Leibes und der Seele) sein will, so ist oder wird es jene<lb/>
besondere und einseitige Erziehung des Gedächtnisses,<lb/>
welche zur Willkür gewandt macht, als zur bewussten An-<lb/>
wendung eingeprägter Regeln, und mit Worten, Sätzen, ja<lb/>
sogar Methoden auf mechanische Weise operiren lehrt; wie<lb/>
denn aber in der That solche gedrillte, gleichgültig-über-<lb/>
legene, abgebrühte Menschen in den meisten jener Be-<lb/>
schäftigungen gefordert werden, oder doch am meisten<lb/>
brauchbar sind, welchen solche Jugend im Dienste der<lb/>
Gesellschaft oder des Staates (als der personificirten Ge-<lb/>
sellschaft) sich hinzugeben geneigt oder genöthigt ist. In<lb/>
allen diesen Rücksichten aber sind in Willen und Anlagen<lb/>
des <hi rendition="#g">gereiften Mannes</hi> die Widerstände um so eher ver-<lb/>
schwunden oder gering geworden, je mehr sie schon ur-<lb/>
sprünglich schwach waren und je mehr durch den Verlauf<lb/>
des Lebens ihre Kraft gebrochen wurde. In jeder Hinsicht<lb/>
ist er der tüchtige <hi rendition="#g">gesellschaftliche</hi> Mensch, sei es<lb/>
dass er als freien Herrn seines Vermögens oder nur seiner<lb/>
Arbeitskraft und anderer Leistungsfähigkeit sich erkenne,<lb/>
immer ein Strebender, Berechnender, Meinungen kritisch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0226] der freien Arbeit im häuslichen Kreise, innerhalb sittlicher Schranken, für die Familie selbst« (K. Marx, d. Kapital 1. Kap. 13, 3 a). Wie sich das kindliche, überhaupt jugend- liche Gemüth zur Wissenschaft verhalte, ist einleuchtend genug. Es gehört eine gewisse Trockenheit der Phantasie dazu, welcher freilich die energische Anspannung der vor- handenen Kräfte helfen kann, um mathematische Schemata und Formeln zu begreifen; die Mathematik aber ist Urbild aller wirklichen Wissenschaft, die ihrer innersten Natur nach willkürlich-künstlich ist. Auch stellt in einigem Maasse der (ob zwar zu grossem Theile blos den Phrasen nach) »wissenschaftliche« Unterricht, welchen die Jugend zumal der höheren d. i. der kapitalistischen Klassen durch Civilisation erhält, auf ihrer Seite als eine Art von Zwangs- arbeit sich dar, wodurch leicht die besten Keime eigenthüm- lichen Geistes in ihnen verkrüppeln, ihr Gemüth erkältet und ihr Gewissen verhärtet wird; während doch dergleichen seiner eigentlichen Natur nach Musik und Gymnastik, d. h. eine harmonische Ausbildung des ganzen Menschen (des Leibes und der Seele) sein will, so ist oder wird es jene besondere und einseitige Erziehung des Gedächtnisses, welche zur Willkür gewandt macht, als zur bewussten An- wendung eingeprägter Regeln, und mit Worten, Sätzen, ja sogar Methoden auf mechanische Weise operiren lehrt; wie denn aber in der That solche gedrillte, gleichgültig-über- legene, abgebrühte Menschen in den meisten jener Be- schäftigungen gefordert werden, oder doch am meisten brauchbar sind, welchen solche Jugend im Dienste der Gesellschaft oder des Staates (als der personificirten Ge- sellschaft) sich hinzugeben geneigt oder genöthigt ist. In allen diesen Rücksichten aber sind in Willen und Anlagen des gereiften Mannes die Widerstände um so eher ver- schwunden oder gering geworden, je mehr sie schon ur- sprünglich schwach waren und je mehr durch den Verlauf des Lebens ihre Kraft gebrochen wurde. In jeder Hinsicht ist er der tüchtige gesellschaftliche Mensch, sei es dass er als freien Herrn seines Vermögens oder nur seiner Arbeitskraft und anderer Leistungsfähigkeit sich erkenne, immer ein Strebender, Berechnender, Meinungen kritisch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/226
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/226>, abgerufen am 24.11.2024.