dem weiblichen Gemüthe zuwider sein muss. Die Handels- frau, eine schon im frühen Städteleben nicht seltene Er- scheinung, tritt auch dem Rechte nach aus ihrer natürlichen Sphäre heraus, sie ist die erste mündige oder emancipirte Frau. Der Handel ist, in seiner empirisch gewöhnlichen Erscheinung, auch dem Gewissen entgegen, und vorzüglich jener höchst weiblichen Empfindung der Scham. Denn Handel ist dreist und frech. Und er ist lügenhaft. Das Lob, welches der Händler seiner Waare gibt, ist in der Regel Lüge, und doch der Wahrheit gleich zu wirken be- rechnet. Alle Worte sind hier willkürlich und zweckmässig, darum auch durch und durch prosaisch und kalt. Auch das wahre Wort kommt darin der bewussten Lüge gleich. Diejenige Lüge ist innerhalb des Handels nicht verpönt, weil kein Betrug, welche blos bestimmt ist, die Kauflust zu erregen und nicht, die Waare über ihrem Werthe zu ver- kaufen. Aber Alles, was an berechneten Worten im Systeme des Handels nothwendig, ist, wenn nicht eigentliche Lüge, so doch seinem Wesen nach Unwahrheit, weil das Wort seine Qualitäten eingebüsst hat und (gleich allen möglichen Sachen) zu einer blossen Quantität angewandter Mittel er- niedrigt wird. In diesem Verstande gilt darum: dass die Lüge Grundlage der Gesellschaft ist. -- Gleichwie zum Handel aber, so steht das Weib zu aller unfrei-freien Arbeit und Dienstleistung, welche seinem Gefallen und seiner Gewohnheit ungemäss ist und doch seinem Pflicht- gefühl nicht entspringt; daher die käufliche und verkaufte Arbeit, welche auch an ihrem Producte keine Frucht hat und Dienstleistung nicht an Menschen oder an die Natur ist, sondern an todte Geräthe von unheimlich-überwäl- tigender Macht: die Fabrikarbeit. Und gerade für diese Bedienung von Maschinen muss den Käufern und Subjecten der kapitalistischen Production die weibliche Arbeitskraft vorzüglich geeignet erscheinen, da sie dem Begriffe der ein- fachen und mittleren (durchschnittlichen) menschlichen Arbeit am nächsten entspricht, zwischen der Gewandtheit, Bildsamkeit von Kinderarbeit und der Kraft und Sicherheit von Mannesarbeit in der Mitte stehend. Denn diese ge- meine Fabrikarbeit ist leicht: darum von Kindern manche
dem weiblichen Gemüthe zuwider sein muss. Die Handels- frau, eine schon im frühen Städteleben nicht seltene Er- scheinung, tritt auch dem Rechte nach aus ihrer natürlichen Sphäre heraus, sie ist die erste mündige oder emancipirte Frau. Der Handel ist, in seiner empirisch gewöhnlichen Erscheinung, auch dem Gewissen entgegen, und vorzüglich jener höchst weiblichen Empfindung der Scham. Denn Handel ist dreist und frech. Und er ist lügenhaft. Das Lob, welches der Händler seiner Waare gibt, ist in der Regel Lüge, und doch der Wahrheit gleich zu wirken be- rechnet. Alle Worte sind hier willkürlich und zweckmässig, darum auch durch und durch prosaisch und kalt. Auch das wahre Wort kommt darin der bewussten Lüge gleich. Diejenige Lüge ist innerhalb des Handels nicht verpönt, weil kein Betrug, welche blos bestimmt ist, die Kauflust zu erregen und nicht, die Waare über ihrem Werthe zu ver- kaufen. Aber Alles, was an berechneten Worten im Systeme des Handels nothwendig, ist, wenn nicht eigentliche Lüge, so doch seinem Wesen nach Unwahrheit, weil das Wort seine Qualitäten eingebüsst hat und (gleich allen möglichen Sachen) zu einer blossen Quantität angewandter Mittel er- niedrigt wird. In diesem Verstande gilt darum: dass die Lüge Grundlage der Gesellschaft ist. — Gleichwie zum Handel aber, so steht das Weib zu aller unfrei-freien Arbeit und Dienstleistung, welche seinem Gefallen und seiner Gewohnheit ungemäss ist und doch seinem Pflicht- gefühl nicht entspringt; daher die käufliche und verkaufte Arbeit, welche auch an ihrem Producte keine Frucht hat und Dienstleistung nicht an Menschen oder an die Natur ist, sondern an todte Geräthe von unheimlich-überwäl- tigender Macht: die Fabrikarbeit. Und gerade für diese Bedienung von Maschinen muss den Käufern und Subjecten der kapitalistischen Production die weibliche Arbeitskraft vorzüglich geeignet erscheinen, da sie dem Begriffe der ein- fachen und mittleren (durchschnittlichen) menschlichen Arbeit am nächsten entspricht, zwischen der Gewandtheit, Bildsamkeit von Kinderarbeit und der Kraft und Sicherheit von Mannesarbeit in der Mitte stehend. Denn diese ge- meine Fabrikarbeit ist leicht: darum von Kindern manche
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dem weiblichen Gemüthe zuwider sein muss. Die Handels-
frau, eine schon im frühen Städteleben nicht seltene Er-
scheinung, tritt auch dem Rechte nach aus ihrer natürlichen
Sphäre heraus, sie ist die erste mündige oder emancipirte
Frau. Der Handel ist, in seiner empirisch gewöhnlichen
Erscheinung, auch dem Gewissen entgegen, und vorzüglich
jener höchst weiblichen Empfindung der Scham. Denn
Handel ist dreist und frech. Und er ist lügenhaft. Das
Lob, welches der Händler seiner Waare gibt, ist in der
Regel Lüge, und doch der Wahrheit gleich zu wirken be-
rechnet. Alle Worte sind hier willkürlich und zweckmässig,
darum auch durch und durch prosaisch und kalt. Auch
das wahre Wort kommt darin der bewussten Lüge gleich.
Diejenige Lüge ist innerhalb des Handels nicht verpönt,
weil kein Betrug, welche blos bestimmt ist, die Kauflust zu
erregen und nicht, die Waare über ihrem Werthe zu ver-
kaufen. Aber Alles, was an berechneten Worten im Systeme
des Handels nothwendig, ist, wenn nicht eigentliche Lüge,
so doch seinem Wesen nach Unwahrheit, weil das Wort
seine Qualitäten eingebüsst hat und (gleich allen möglichen
Sachen) zu einer blossen Quantität angewandter Mittel er-
niedrigt wird. In diesem Verstande gilt darum: dass die
Lüge Grundlage der Gesellschaft ist. — Gleichwie
zum Handel aber, so steht das Weib zu aller unfrei-freien
Arbeit und Dienstleistung, welche seinem Gefallen und
seiner Gewohnheit ungemäss ist und doch seinem Pflicht-
gefühl nicht entspringt; daher die käufliche und verkaufte
Arbeit, welche auch an ihrem Producte keine Frucht hat
und Dienstleistung nicht an Menschen oder an die Natur
ist, sondern an todte Geräthe von unheimlich-überwäl-
tigender Macht: die Fabrikarbeit. Und gerade für diese
Bedienung von Maschinen muss den Käufern und Subjecten
der kapitalistischen Production die weibliche Arbeitskraft
vorzüglich geeignet erscheinen, da sie dem Begriffe der ein-
fachen und mittleren (durchschnittlichen) menschlichen
Arbeit am nächsten entspricht, zwischen der Gewandtheit,
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/223>, abgerufen am 24.11.2024.
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