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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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und hingegen Ungehorsam, Eigenwille, Täuschung. Alles
solches Gefühl wird sodann vermehrt und gefördert durch
Beispiel und Lehre, durch Erweckung von Furcht und
Hoffnung, Erziehung zu Ehrfurcht, Vertrauen und Glauben.
So auch erweitert und verfeinert in Anwendung auf höhere,
allgemeinere Autoritäten und Mächte, die Würdenträger und
Edlen in der Gemeinde und die Gebote des Herkommens,
welche sie vertreten; endlich und zumal den unsichtbaren,
heiligen Göttern und Dämonen geweiht. Nun aber kann
dieser fromme Wille des Gemüthes schon im Kinde sowohl
verkümmern als sich entwickeln, sowohl zurückgebildet als
ausgebildet werden, wenn alle die mannigfachen günstigen
Bedingungen ihm versagt werden, und zumal bei schwacher
oder fehlerhafter Anlage. Und um so mehr, je geringer
es geworden ist, desto leichter wird es den ihm feindlichen
Kräften im Kampfe des Lebens erliegen, und so wird es
von dem Willkürlichen als Hemniss aus dem Wege geräumt,
indem er es als einen Complex von Vorurtheilen zu er-
kennen und in seine Elemente aufzulösen beflissen ist.
Aber erst der Gebildete, Wissende, Aufgeklärte, -- in
welchem es, sofern er ein Edler, Erzogener, Denkender ist,
auch zu seiner höchsten Entfaltung, seiner zartesten Blüthe
gelangt -- kann es auch vollkommen und auf radicale
Weise in sich vernichten, indem er von dem Glauben seiner
Väter und seines Volkes, aus Einsicht in dessen Gründe,
sich lossagt und besser begründete, wissenschaftliche Mei-
nungen über das, was für ihn und etwa auch für jeden
so Vernünftigen erlaubt und richtig oder verboten und
falsch sei, an die Stelle zu setzen versuchen kann; ent-
schlossen wie er ist, berechtigt wie er sich hält, nicht nach
blinden und dummen Gefühlen, sondern allein nach deutlich
begriffenen Gründen seine Handlungen einzurichten. Und
solche willkürliche, eigene Lebensansicht ist dasjenige, was
hier als Bewusstheit verstanden wird. Bewusstheit ist
die willkürliche Freiheit in ihrem höchsten Ausdrucke und
wird, wenn missfallend, "Frechheit" geheissen.

und hingegen Ungehorsam, Eigenwille, Täuschung. Alles
solches Gefühl wird sodann vermehrt und gefördert durch
Beispiel und Lehre, durch Erweckung von Furcht und
Hoffnung, Erziehung zu Ehrfurcht, Vertrauen und Glauben.
So auch erweitert und verfeinert in Anwendung auf höhere,
allgemeinere Autoritäten und Mächte, die Würdenträger und
Edlen in der Gemeinde und die Gebote des Herkommens,
welche sie vertreten; endlich und zumal den unsichtbaren,
heiligen Göttern und Dämonen geweiht. Nun aber kann
dieser fromme Wille des Gemüthes schon im Kinde sowohl
verkümmern als sich entwickeln, sowohl zurückgebildet als
ausgebildet werden, wenn alle die mannigfachen günstigen
Bedingungen ihm versagt werden, und zumal bei schwacher
oder fehlerhafter Anlage. Und um so mehr, je geringer
es geworden ist, desto leichter wird es den ihm feindlichen
Kräften im Kampfe des Lebens erliegen, und so wird es
von dem Willkürlichen als Hemniss aus dem Wege geräumt,
indem er es als einen Complex von Vorurtheilen zu er-
kennen und in seine Elemente aufzulösen beflissen ist.
Aber erst der Gebildete, Wissende, Aufgeklärte, — in
welchem es, sofern er ein Edler, Erzogener, Denkender ist,
auch zu seiner höchsten Entfaltung, seiner zartesten Blüthe
gelangt — kann es auch vollkommen und auf radicale
Weise in sich vernichten, indem er von dem Glauben seiner
Väter und seines Volkes, aus Einsicht in dessen Gründe,
sich lossagt und besser begründete, wissenschaftliche Mei-
nungen über das, was für ihn und etwa auch für jeden
so Vernünftigen erlaubt und richtig oder verboten und
falsch sei, an die Stelle zu setzen versuchen kann; ent-
schlossen wie er ist, berechtigt wie er sich hält, nicht nach
blinden und dummen Gefühlen, sondern allein nach deutlich
begriffenen Gründen seine Handlungen einzurichten. Und
solche willkürliche, eigene Lebensansicht ist dasjenige, was
hier als Bewusstheit verstanden wird. Bewusstheit ist
die willkürliche Freiheit in ihrem höchsten Ausdrucke und
wird, wenn missfallend, »Frechheit« geheissen.

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[178/0214] und hingegen Ungehorsam, Eigenwille, Täuschung. Alles solches Gefühl wird sodann vermehrt und gefördert durch Beispiel und Lehre, durch Erweckung von Furcht und Hoffnung, Erziehung zu Ehrfurcht, Vertrauen und Glauben. So auch erweitert und verfeinert in Anwendung auf höhere, allgemeinere Autoritäten und Mächte, die Würdenträger und Edlen in der Gemeinde und die Gebote des Herkommens, welche sie vertreten; endlich und zumal den unsichtbaren, heiligen Göttern und Dämonen geweiht. Nun aber kann dieser fromme Wille des Gemüthes schon im Kinde sowohl verkümmern als sich entwickeln, sowohl zurückgebildet als ausgebildet werden, wenn alle die mannigfachen günstigen Bedingungen ihm versagt werden, und zumal bei schwacher oder fehlerhafter Anlage. Und um so mehr, je geringer es geworden ist, desto leichter wird es den ihm feindlichen Kräften im Kampfe des Lebens erliegen, und so wird es von dem Willkürlichen als Hemniss aus dem Wege geräumt, indem er es als einen Complex von Vorurtheilen zu er- kennen und in seine Elemente aufzulösen beflissen ist. Aber erst der Gebildete, Wissende, Aufgeklärte, — in welchem es, sofern er ein Edler, Erzogener, Denkender ist, auch zu seiner höchsten Entfaltung, seiner zartesten Blüthe gelangt — kann es auch vollkommen und auf radicale Weise in sich vernichten, indem er von dem Glauben seiner Väter und seines Volkes, aus Einsicht in dessen Gründe, sich lossagt und besser begründete, wissenschaftliche Mei- nungen über das, was für ihn und etwa auch für jeden so Vernünftigen erlaubt und richtig oder verboten und falsch sei, an die Stelle zu setzen versuchen kann; ent- schlossen wie er ist, berechtigt wie er sich hält, nicht nach blinden und dummen Gefühlen, sondern allein nach deutlich begriffenen Gründen seine Handlungen einzurichten. Und solche willkürliche, eigene Lebensansicht ist dasjenige, was hier als Bewusstheit verstanden wird. Bewusstheit ist die willkürliche Freiheit in ihrem höchsten Ausdrucke und wird, wenn missfallend, »Frechheit« geheissen.

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/214>, abgerufen am 28.11.2024.