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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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bedeutender darin. Denn wie in der männlichen Constitu-
tion das musculöse, so scheint in der weiblichen Constitution
das nervöse System zu überwiegen. Ihrer passiveren, stetigen,
in engem Kreise sich bewegenden Thätigkeit gemäss, sind
sie im Allgemeinen empfänglicher und empfindlicher für die
Eindrücke, welche ungesucht, unerwartet von aussen heran-
kommen: lieber das nahe gegenwärtige fortwährende Gute
geniessend, als nach entferntem zukünftigem seltenem
Glücke strebend. Um so entschiedener, leidenschaftlicher
reagirt ihr Wille auf angenehme und unangenehme Ver-
änderungen seines Zustandes: daher denn Sinnlichkeit, als
diese bejahenden und verneinenden Gefühle vermittelnd und
also als Fähigkeit der Unterscheidung des Guten und Bösen,
des Schönen und Hässlichen, sich in einer Weise ausbildet
und verfeinert, die mit der Erkenntniss von Gegenständen
und Vorgängen (der objectiven Erkenntniss) durchaus nicht
zusammenfällt. Diese wird (schon als Wahrnehmung) vor-
züglich durch angespannte Thätigkeit des Auges, demnächst
des Ohres, unter Hülfe des Tastsinnes, gewonnen; jene
gehört zunächst (ausser dem Gemeingefühl) den besonderen
Organen des Geruchs und Geschmackes an und bedarf nur
der passiven Apperception. Sie ist Sache des Weibes, mithin
alles das unmittelbare Verhältniss zu den Dingen, welches
den Wesenwillen bezeichnet. Und alle Thätigkeit, welche
in unmittelbarer Weise, sei es ursprünglich, oder durch
Gewohnheit und Gedächtniss, als Folge und als Artung des
Lebens selber sich äussert; daher alle Ausdrücke, und Aus-
brüche der Gesinnungen, der Gemüthsbewegungen, der
Gedanken, welche das Gewissen eingibt: dies ist dem Weibe,
als dem in jedem Bezuge natürlicheren Menschen, eigen-
thümliche Wahrhaftigkeit und Naivetät, Unmittelbarkeit
und Leidenschaftlichkeit. Und hierin beruhet die Produc-
tivität des Geistes, der Phantasie, welche durch die Feinheit
des wählenden Gefühles, des "Geschmackes", zur künst-
lerischen Productivität wird. Wenn auch dieselbe, um
grosse Werke leisten zu können, zumeist männlicher Kraft
und Klugheit bedurft hat, sehr oft auch der (egoistischen)
Motive, welche des Mannes Thatkraft anspornen und erhöhen;
so pflegt doch das beste Theil, der Kern des Genies, ein

bedeutender darin. Denn wie in der männlichen Constitu-
tion das musculöse, so scheint in der weiblichen Constitution
das nervöse System zu überwiegen. Ihrer passiveren, stetigen,
in engem Kreise sich bewegenden Thätigkeit gemäss, sind
sie im Allgemeinen empfänglicher und empfindlicher für die
Eindrücke, welche ungesucht, unerwartet von aussen heran-
kommen: lieber das nahe gegenwärtige fortwährende Gute
geniessend, als nach entferntem zukünftigem seltenem
Glücke strebend. Um so entschiedener, leidenschaftlicher
reagirt ihr Wille auf angenehme und unangenehme Ver-
änderungen seines Zustandes: daher denn Sinnlichkeit, als
diese bejahenden und verneinenden Gefühle vermittelnd und
also als Fähigkeit der Unterscheidung des Guten und Bösen,
des Schönen und Hässlichen, sich in einer Weise ausbildet
und verfeinert, die mit der Erkenntniss von Gegenständen
und Vorgängen (der objectiven Erkenntniss) durchaus nicht
zusammenfällt. Diese wird (schon als Wahrnehmung) vor-
züglich durch angespannte Thätigkeit des Auges, demnächst
des Ohres, unter Hülfe des Tastsinnes, gewonnen; jene
gehört zunächst (ausser dem Gemeingefühl) den besonderen
Organen des Geruchs und Geschmackes an und bedarf nur
der passiven Apperception. Sie ist Sache des Weibes, mithin
alles das unmittelbare Verhältniss zu den Dingen, welches
den Wesenwillen bezeichnet. Und alle Thätigkeit, welche
in unmittelbarer Weise, sei es ursprünglich, oder durch
Gewohnheit und Gedächtniss, als Folge und als Artung des
Lebens selber sich äussert; daher alle Ausdrücke, und Aus-
brüche der Gesinnungen, der Gemüthsbewegungen, der
Gedanken, welche das Gewissen eingibt: dies ist dem Weibe,
als dem in jedem Bezuge natürlicheren Menschen, eigen-
thümliche Wahrhaftigkeit und Naivetät, Unmittelbarkeit
und Leidenschaftlichkeit. Und hierin beruhet die Produc-
tivität des Geistes, der Phantasie, welche durch die Feinheit
des wählenden Gefühles, des »Geschmackes«, zur künst-
lerischen Productivität wird. Wenn auch dieselbe, um
grosse Werke leisten zu können, zumeist männlicher Kraft
und Klugheit bedurft hat, sehr oft auch der (egoistischen)
Motive, welche des Mannes Thatkraft anspornen und erhöhen;
so pflegt doch das beste Theil, der Kern des Genies, ein

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[171/0207] bedeutender darin. Denn wie in der männlichen Constitu- tion das musculöse, so scheint in der weiblichen Constitution das nervöse System zu überwiegen. Ihrer passiveren, stetigen, in engem Kreise sich bewegenden Thätigkeit gemäss, sind sie im Allgemeinen empfänglicher und empfindlicher für die Eindrücke, welche ungesucht, unerwartet von aussen heran- kommen: lieber das nahe gegenwärtige fortwährende Gute geniessend, als nach entferntem zukünftigem seltenem Glücke strebend. Um so entschiedener, leidenschaftlicher reagirt ihr Wille auf angenehme und unangenehme Ver- änderungen seines Zustandes: daher denn Sinnlichkeit, als diese bejahenden und verneinenden Gefühle vermittelnd und also als Fähigkeit der Unterscheidung des Guten und Bösen, des Schönen und Hässlichen, sich in einer Weise ausbildet und verfeinert, die mit der Erkenntniss von Gegenständen und Vorgängen (der objectiven Erkenntniss) durchaus nicht zusammenfällt. Diese wird (schon als Wahrnehmung) vor- züglich durch angespannte Thätigkeit des Auges, demnächst des Ohres, unter Hülfe des Tastsinnes, gewonnen; jene gehört zunächst (ausser dem Gemeingefühl) den besonderen Organen des Geruchs und Geschmackes an und bedarf nur der passiven Apperception. Sie ist Sache des Weibes, mithin alles das unmittelbare Verhältniss zu den Dingen, welches den Wesenwillen bezeichnet. Und alle Thätigkeit, welche in unmittelbarer Weise, sei es ursprünglich, oder durch Gewohnheit und Gedächtniss, als Folge und als Artung des Lebens selber sich äussert; daher alle Ausdrücke, und Aus- brüche der Gesinnungen, der Gemüthsbewegungen, der Gedanken, welche das Gewissen eingibt: dies ist dem Weibe, als dem in jedem Bezuge natürlicheren Menschen, eigen- thümliche Wahrhaftigkeit und Naivetät, Unmittelbarkeit und Leidenschaftlichkeit. Und hierin beruhet die Produc- tivität des Geistes, der Phantasie, welche durch die Feinheit des wählenden Gefühles, des »Geschmackes«, zur künst- lerischen Productivität wird. Wenn auch dieselbe, um grosse Werke leisten zu können, zumeist männlicher Kraft und Klugheit bedurft hat, sehr oft auch der (egoistischen) Motive, welche des Mannes Thatkraft anspornen und erhöhen; so pflegt doch das beste Theil, der Kern des Genies, ein

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/207>, abgerufen am 24.11.2024.