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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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§ 20.

Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch-
lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille
schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes
als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens,
indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und
unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen
Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich-
keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject
des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie
identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse
eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner
Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und
zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen,
es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen
und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung.
Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge-
ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi-
duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt
hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte
(und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von
diesen -- wenn die Bedingungen günstig sind -- ausge-
bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch
Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch
besondere Anwendung wiederum sich specialisirend;
-- alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber
das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine
eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. -- Der
Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres
Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder
Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht-
Thuns. Ideelle Möglichkeiten -- ideeller Stoff. Die Finger
des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen
sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit.
Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht
seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als
seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert
er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine
Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
§ 20.

Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch-
lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille
schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes
als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens,
indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und
unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen
Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich-
keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject
des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie
identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse
eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner
Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und
zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen,
es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen
und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung.
Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge-
ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi-
duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt
hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte
(und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von
diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge-
bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch
Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch
besondere Anwendung wiederum sich specialisirend;
— alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber
das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine
eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der
Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres
Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder
Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht-
Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger
des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen
sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit.
Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht
seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als
seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert
er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine
Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10
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[145/0181] § 20. Die (psychische) Materie, aus welcher die Formen mensch- lichen Wesenwillens sich gestalten, ist menschlicher Wille schlechthin oder Freiheit. Freiheit ist hier nichts Anderes als die reale Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens, indem sie empfunden oder gewusst ist; eine allgemeine und unbestimmte Tendenz (Thätigkeit, Kraft), welche in jenen Formen zur besonderen und bestimmten wird, die Möglich- keit zur determinirten Wahrscheinlichkeit. Das Subject des Wesenwillens, insofern als es mit dieser seiner Materie identisch ist, verhält sich zu seinen Formen, wie die Masse eines Organismus, sofern sie unter Abstraction von seiner Gestaltung gedacht wird, zu dieser Gestaltung selber und zu den einzelnen Organen; d. h. es ist nichts ausser ihnen, es ist ihre Einheit und Substanz. Seine Formen wachsen und differenziren sich durch ihre eigene Action und Uebung. Dieser Process vollzieht sich aber nur zu einem sehr ge- ringen Theile durch die eigenthümliche Arbeit des Indivi- duums. Modificationen, in welche sich dieses entwickelt hat, werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte (und also Willensformen der Materie nach) übertragen, von diesen — wenn die Bedingungen günstig sind — ausge- bildet, und, bei gleicher Determination, ferner geübt, durch Uebung und Gebrauch sich verstärkend, oder durch besondere Anwendung wiederum sich specialisirend; — alle solche Arbeit seiner Vorfahren wiederholt aber das Einzelwesen in seinem Werden und Wachsen; auf eine eigenthümliche, verkürzte und erleichterte Weise. — Der Stoff der Willkür ist Freiheit, sofern sie im Denken ihres Subjectes existirt, als die Masse von Möglichkeiten oder Kräften des Wollens und Nicht-Wollens, Thuns und Nicht- Thuns. Ideelle Möglichkeiten — ideeller Stoff. Die Finger des Denkens begreifen eine Menge solches Stoffes, nehmen sie heraus und geben ihr eine Form und formale Einheit. Dieses Ding, die gebildete Willkür, ist also in der Macht seines Urhebers, welcher es festhält und es anwendet als seine Kraft, indem er handelt. Durch Handlung vermindert er die Menge seiner Möglichkeiten oder vernutzt seine Kraft; bis zu diesem Moment konnte er noch (gemäss Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 10

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/181>, abgerufen am 22.11.2024.