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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 28te Januar.
Gott ist die Lieb, und will, daß ich
Den Nächsten liebe, gleich als mich.


Kein geringerer Maßstab durfte für die Menschenliebe ver-
ordnet werden, sonst war er mangelhaft, wir schlummer-
ten ein und erkanten unsre unbezahlbare Schuld nicht.
Wer nur weiß, wie viele Ausnahmen wir zu erdenken pflegen,
wenn von Abtragung unsrer Schulden und Erfüllung unsrer
Pflichten die Rede ist: der muß die Weisheit de höchsten Gesetz-
gebers bewundern, daß er uns durch diese Verordnung alle Aus-
flüchte abgeschnitten hat. Hiesse es nur: du solst deinen Näch-
sten lieben, als deinen Blutsfreund oder Bruder, so wären allem
Hader und Kaltsinn die Thore geöfnet. Die Freundschaft und
Liebe zwischen Anverwandten und Geschwister wäre leider eine sehr
mißliche Regel zur Nachahmung. Wie leicht würde es dabei dem
Hartherzigen werden, vor Gott sich hinzustellen und zu sagen:
das alles habe ich gehalten von meiner Jugend an, was fehlet
mir noch?

An unsrer Demütigung durfte Gott es nie ermangeln lassen,
weil Adams Kinder seit dem Sündenfall sich gar zu gerne Gott
gleich setzen mögten. Der Gedanke: "ich bin zu gut, "ist den
meisten so geläufig, daß es ihnen nicht einfält, ihr Herz zu bear-
beiten. Aber eben deswegen legte uns der Allweise solche Pflich-
ten auf, welche wir niemals ganz erfüllen können. Der Fleißigste
findet noch immer zu thun, der Vollkommenste findet Fehler an
sich, und jedermann muß bekennen: daß er ein Schuldner vor
Gott und dem Nächsten sey. Dis aufrichtige Bekenntniß ist so
löblich, so demütigend und heilsam, daß es der halbe Weg zur
Tugend genannt werden kan. Sich selber ganz lossprechen, heißt
sich verdammen.

Habe ich meinen Nächsten geliebt als mich selbst? -- Ich
will nicht heucheln: ein stotterndes Nein! ist mir rühmlicher, als
ein unverschämtes Selbstlob. Als mich selbst? -- und ich liebe
mich doch so ausgelassen zärtlich, daß ich mir zu zeiten nicht ein-

mal
D 5


Der 28te Januar.
Gott iſt die Lieb, und will, daß ich
Den Naͤchſten liebe, gleich als mich.


Kein geringerer Maßſtab durfte fuͤr die Menſchenliebe ver-
ordnet werden, ſonſt war er mangelhaft, wir ſchlummer-
ten ein und erkanten unſre unbezahlbare Schuld nicht.
Wer nur weiß, wie viele Ausnahmen wir zu erdenken pflegen,
wenn von Abtragung unſrer Schulden und Erfuͤllung unſrer
Pflichten die Rede iſt: der muß die Weisheit de hoͤchſten Geſetz-
gebers bewundern, daß er uns durch dieſe Verordnung alle Aus-
fluͤchte abgeſchnitten hat. Hieſſe es nur: du ſolſt deinen Naͤch-
ſten lieben, als deinen Blutsfreund oder Bruder, ſo waͤren allem
Hader und Kaltſinn die Thore geoͤfnet. Die Freundſchaft und
Liebe zwiſchen Anverwandten und Geſchwiſter waͤre leider eine ſehr
mißliche Regel zur Nachahmung. Wie leicht wuͤrde es dabei dem
Hartherzigen werden, vor Gott ſich hinzuſtellen und zu ſagen:
das alles habe ich gehalten von meiner Jugend an, was fehlet
mir noch?

An unſrer Demuͤtigung durfte Gott es nie ermangeln laſſen,
weil Adams Kinder ſeit dem Suͤndenfall ſich gar zu gerne Gott
gleich ſetzen moͤgten. Der Gedanke: „ich bin zu gut, „iſt den
meiſten ſo gelaͤufig, daß es ihnen nicht einfaͤlt, ihr Herz zu bear-
beiten. Aber eben deswegen legte uns der Allweiſe ſolche Pflich-
ten auf, welche wir niemals ganz erfuͤllen koͤnnen. Der Fleißigſte
findet noch immer zu thun, der Vollkommenſte findet Fehler an
ſich, und jedermann muß bekennen: daß er ein Schuldner vor
Gott und dem Naͤchſten ſey. Dis aufrichtige Bekenntniß iſt ſo
loͤblich, ſo demuͤtigend und heilſam, daß es der halbe Weg zur
Tugend genannt werden kan. Sich ſelber ganz losſprechen, heißt
ſich verdammen.

Habe ich meinen Naͤchſten geliebt als mich ſelbſt? — Ich
will nicht heucheln: ein ſtotterndes Nein! iſt mir ruͤhmlicher, als
ein unverſchaͤmtes Selbſtlob. Als mich ſelbſt? — und ich liebe
mich doch ſo ausgelaſſen zaͤrtlich, daß ich mir zu zeiten nicht ein-

mal
D 5
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[57[87]/0094] Der 28te Januar. Gott iſt die Lieb, und will, daß ich Den Naͤchſten liebe, gleich als mich. Kein geringerer Maßſtab durfte fuͤr die Menſchenliebe ver- ordnet werden, ſonſt war er mangelhaft, wir ſchlummer- ten ein und erkanten unſre unbezahlbare Schuld nicht. Wer nur weiß, wie viele Ausnahmen wir zu erdenken pflegen, wenn von Abtragung unſrer Schulden und Erfuͤllung unſrer Pflichten die Rede iſt: der muß die Weisheit de hoͤchſten Geſetz- gebers bewundern, daß er uns durch dieſe Verordnung alle Aus- fluͤchte abgeſchnitten hat. Hieſſe es nur: du ſolſt deinen Naͤch- ſten lieben, als deinen Blutsfreund oder Bruder, ſo waͤren allem Hader und Kaltſinn die Thore geoͤfnet. Die Freundſchaft und Liebe zwiſchen Anverwandten und Geſchwiſter waͤre leider eine ſehr mißliche Regel zur Nachahmung. Wie leicht wuͤrde es dabei dem Hartherzigen werden, vor Gott ſich hinzuſtellen und zu ſagen: das alles habe ich gehalten von meiner Jugend an, was fehlet mir noch? An unſrer Demuͤtigung durfte Gott es nie ermangeln laſſen, weil Adams Kinder ſeit dem Suͤndenfall ſich gar zu gerne Gott gleich ſetzen moͤgten. Der Gedanke: „ich bin zu gut, „iſt den meiſten ſo gelaͤufig, daß es ihnen nicht einfaͤlt, ihr Herz zu bear- beiten. Aber eben deswegen legte uns der Allweiſe ſolche Pflich- ten auf, welche wir niemals ganz erfuͤllen koͤnnen. Der Fleißigſte findet noch immer zu thun, der Vollkommenſte findet Fehler an ſich, und jedermann muß bekennen: daß er ein Schuldner vor Gott und dem Naͤchſten ſey. Dis aufrichtige Bekenntniß iſt ſo loͤblich, ſo demuͤtigend und heilſam, daß es der halbe Weg zur Tugend genannt werden kan. Sich ſelber ganz losſprechen, heißt ſich verdammen. Habe ich meinen Naͤchſten geliebt als mich ſelbſt? — Ich will nicht heucheln: ein ſtotterndes Nein! iſt mir ruͤhmlicher, als ein unverſchaͤmtes Selbſtlob. Als mich ſelbſt? — und ich liebe mich doch ſo ausgelaſſen zaͤrtlich, daß ich mir zu zeiten nicht ein- mal D 5

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 57[87]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/94>, abgerufen am 22.11.2024.