und selig werden können. Wer hat sie uns vermacht? womit verdienen wir sie? und was würden sie unsrer Seele nützen?
Gewiß, der Reichen unter uns ist eine weit größre Anzahl als der wahren Armen. Auch die Nackendsten unter diesen wür- den jetzt nicht frieren dürfen, sondern wohl bekleidet seyn, wenn jene ihre überflüßige Kleider unter sie austheilen müßten. Hin- gegen sind freilich alle Bergwerke zu unergiebig, Gärten und Weinberge zu unfruchtbar, die Inseln Indiens zu klein, und vom Pferde bis zum Seidenwurm müßte jedes Thier zehnmal mehr arbeiten, wenn ein Mißvergnügter sich für reich halten solte. Aber auch für ihn nur müßten goldne Aepfel auf den Zweigen wachsen, für ihn nur die Hermeline gekleidet werden, und alle Künstler die Nächte hindurch wachen. So bald sein Nebenmensch theil an diesen göttlichen Gaben nimt, so sind sie ihm nichts; er nur will geniessen, seine Brüder aber sollen zusehen, und ihn de- müthig bedienen. Mancher Dieb und Mörder hat ein beßres Herz, als jener Müßiggänger, welcher dem milden Geber niemals dan- ket, sondern nur -- immer mehr wünscht; ohnerachtet er täg- lich so viel verthun kan, daß zwanzig Familien auf dem Lande sehr festlich davon leben würden. Wie groß muß die langmut Gottes seyn, der solche Rebellen erträgt!
Nein! ich will nicht murren, nicht scheel sehen, daß du, Herr! so gütig bist. Zu viel, unendlich zu viel habe ich von je her, und auch an diesem Tage, aus deiner Hand empfangen. Wolte ich schweigen, so würde das Blut von tausend Thieren um Rache schreien, darum, daß ich ihr Fleisch ohne Danksagung genoß, und ihres Schöpfers uneingedenk in ihre Wolle mich kleidete. Koum ist wol noch ein Land auf der Erde, so weit wir sie kennen, übrig, das mir nicht schon Früchte und Vergnügungen gezollet hätte. Fast jedes Meer hat etwas zu meinem Wohlstande beigetragen: und ich wolte nicht loben? Ja, lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn mei- ne Seele! und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat!
Der
Der 23te Januar.
und ſelig werden koͤnnen. Wer hat ſie uns vermacht? womit verdienen wir ſie? und was wuͤrden ſie unſrer Seele nuͤtzen?
Gewiß, der Reichen unter uns iſt eine weit groͤßre Anzahl als der wahren Armen. Auch die Nackendſten unter dieſen wuͤr- den jetzt nicht frieren duͤrfen, ſondern wohl bekleidet ſeyn, wenn jene ihre uͤberfluͤßige Kleider unter ſie austheilen muͤßten. Hin- gegen ſind freilich alle Bergwerke zu unergiebig, Gaͤrten und Weinberge zu unfruchtbar, die Inſeln Indiens zu klein, und vom Pferde bis zum Seidenwurm muͤßte jedes Thier zehnmal mehr arbeiten, wenn ein Mißvergnuͤgter ſich fuͤr reich halten ſolte. Aber auch fuͤr ihn nur muͤßten goldne Aepfel auf den Zweigen wachſen, fuͤr ihn nur die Hermeline gekleidet werden, und alle Kuͤnſtler die Naͤchte hindurch wachen. So bald ſein Nebenmenſch theil an dieſen goͤttlichen Gaben nimt, ſo ſind ſie ihm nichts; er nur will genieſſen, ſeine Bruͤder aber ſollen zuſehen, und ihn de- muͤthig bedienen. Mancher Dieb und Moͤrder hat ein beßres Herz, als jener Muͤßiggaͤnger, welcher dem milden Geber niemals dan- ket, ſondern nur — immer mehr wuͤnſcht; ohnerachtet er taͤg- lich ſo viel verthun kan, daß zwanzig Familien auf dem Lande ſehr feſtlich davon leben wuͤrden. Wie groß muß die langmut Gottes ſeyn, der ſolche Rebellen ertraͤgt!
Nein! ich will nicht murren, nicht ſcheel ſehen, daß du, Herr! ſo guͤtig biſt. Zu viel, unendlich zu viel habe ich von je her, und auch an dieſem Tage, aus deiner Hand empfangen. Wolte ich ſchweigen, ſo wuͤrde das Blut von tauſend Thieren um Rache ſchreien, darum, daß ich ihr Fleiſch ohne Dankſagung genoß, und ihres Schoͤpfers uneingedenk in ihre Wolle mich kleidete. Koum iſt wol noch ein Land auf der Erde, ſo weit wir ſie kennen, uͤbrig, das mir nicht ſchon Fruͤchte und Vergnuͤgungen gezollet haͤtte. Faſt jedes Meer hat etwas zu meinem Wohlſtande beigetragen: und ich wolte nicht loben? Ja, lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen! Lobe den Herrn mei- ne Seele! und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat!
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0085"n="48[78]"/><fwplace="top"type="header">Der 23<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</fw><lb/>
und ſelig werden koͤnnen. Wer hat ſie uns vermacht? womit<lb/>
verdienen wir ſie? und was wuͤrden ſie unſrer Seele nuͤtzen?</p><lb/><p>Gewiß, der Reichen unter uns iſt eine weit groͤßre Anzahl<lb/>
als der wahren Armen. Auch die Nackendſten unter dieſen wuͤr-<lb/>
den jetzt nicht frieren duͤrfen, ſondern wohl bekleidet ſeyn, wenn<lb/>
jene ihre uͤberfluͤßige Kleider unter ſie austheilen muͤßten. Hin-<lb/>
gegen ſind freilich alle Bergwerke zu unergiebig, Gaͤrten und<lb/>
Weinberge zu unfruchtbar, die Inſeln Indiens zu klein, und vom<lb/>
Pferde bis zum Seidenwurm muͤßte jedes Thier zehnmal mehr<lb/>
arbeiten, wenn ein Mißvergnuͤgter ſich fuͤr reich halten ſolte.<lb/>
Aber auch fuͤr ihn nur muͤßten goldne Aepfel auf den Zweigen<lb/>
wachſen, fuͤr ihn nur die Hermeline gekleidet werden, und alle<lb/>
Kuͤnſtler die Naͤchte hindurch wachen. So bald ſein Nebenmenſch<lb/>
theil an dieſen goͤttlichen Gaben nimt, ſo ſind ſie ihm nichts; er<lb/>
nur will genieſſen, ſeine Bruͤder aber ſollen zuſehen, und ihn de-<lb/>
muͤthig bedienen. Mancher Dieb und Moͤrder hat ein beßres Herz,<lb/>
als jener Muͤßiggaͤnger, welcher dem milden Geber niemals dan-<lb/>
ket, ſondern nur — immer mehr wuͤnſcht; ohnerachtet er taͤg-<lb/>
lich ſo viel verthun kan, daß zwanzig Familien auf dem Lande<lb/>ſehr feſtlich davon leben wuͤrden. Wie groß muß die langmut<lb/>
Gottes ſeyn, der ſolche Rebellen ertraͤgt!</p><lb/><p>Nein! ich will nicht murren, nicht ſcheel ſehen, daß du, Herr!<lb/>ſo guͤtig biſt. Zu viel, unendlich zu viel habe ich von je her, und<lb/>
auch an dieſem Tage, aus deiner Hand empfangen. Wolte ich<lb/>ſchweigen, ſo wuͤrde das Blut von tauſend Thieren um Rache<lb/>ſchreien, darum, daß ich ihr Fleiſch ohne Dankſagung genoß, und<lb/>
ihres Schoͤpfers uneingedenk in ihre Wolle mich kleidete. Koum<lb/>
iſt wol noch ein Land auf der Erde, ſo weit wir ſie kennen, uͤbrig,<lb/>
das mir nicht ſchon Fruͤchte und Vergnuͤgungen gezollet haͤtte.<lb/>
Faſt jedes Meer hat etwas zu meinem Wohlſtande beigetragen:<lb/>
und ich wolte nicht loben? Ja, lobe den Herrn, meine Seele!<lb/>
und was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen! Lobe den Herrn mei-<lb/>
ne Seele! und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat!</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[48[78]/0085]
Der 23te Januar.
und ſelig werden koͤnnen. Wer hat ſie uns vermacht? womit
verdienen wir ſie? und was wuͤrden ſie unſrer Seele nuͤtzen?
Gewiß, der Reichen unter uns iſt eine weit groͤßre Anzahl
als der wahren Armen. Auch die Nackendſten unter dieſen wuͤr-
den jetzt nicht frieren duͤrfen, ſondern wohl bekleidet ſeyn, wenn
jene ihre uͤberfluͤßige Kleider unter ſie austheilen muͤßten. Hin-
gegen ſind freilich alle Bergwerke zu unergiebig, Gaͤrten und
Weinberge zu unfruchtbar, die Inſeln Indiens zu klein, und vom
Pferde bis zum Seidenwurm muͤßte jedes Thier zehnmal mehr
arbeiten, wenn ein Mißvergnuͤgter ſich fuͤr reich halten ſolte.
Aber auch fuͤr ihn nur muͤßten goldne Aepfel auf den Zweigen
wachſen, fuͤr ihn nur die Hermeline gekleidet werden, und alle
Kuͤnſtler die Naͤchte hindurch wachen. So bald ſein Nebenmenſch
theil an dieſen goͤttlichen Gaben nimt, ſo ſind ſie ihm nichts; er
nur will genieſſen, ſeine Bruͤder aber ſollen zuſehen, und ihn de-
muͤthig bedienen. Mancher Dieb und Moͤrder hat ein beßres Herz,
als jener Muͤßiggaͤnger, welcher dem milden Geber niemals dan-
ket, ſondern nur — immer mehr wuͤnſcht; ohnerachtet er taͤg-
lich ſo viel verthun kan, daß zwanzig Familien auf dem Lande
ſehr feſtlich davon leben wuͤrden. Wie groß muß die langmut
Gottes ſeyn, der ſolche Rebellen ertraͤgt!
Nein! ich will nicht murren, nicht ſcheel ſehen, daß du, Herr!
ſo guͤtig biſt. Zu viel, unendlich zu viel habe ich von je her, und
auch an dieſem Tage, aus deiner Hand empfangen. Wolte ich
ſchweigen, ſo wuͤrde das Blut von tauſend Thieren um Rache
ſchreien, darum, daß ich ihr Fleiſch ohne Dankſagung genoß, und
ihres Schoͤpfers uneingedenk in ihre Wolle mich kleidete. Koum
iſt wol noch ein Land auf der Erde, ſo weit wir ſie kennen, uͤbrig,
das mir nicht ſchon Fruͤchte und Vergnuͤgungen gezollet haͤtte.
Faſt jedes Meer hat etwas zu meinem Wohlſtande beigetragen:
und ich wolte nicht loben? Ja, lobe den Herrn, meine Seele!
und was in mir iſt, ſeinen heiligen Namen! Lobe den Herrn mei-
ne Seele! und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat!
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 48[78]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/85>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.