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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 23te Januar.
Hab ich nicht mehr, als ich verdiente?
Und mehr als ich verbrauchen kan?
Wenn ich zu klagen mich erkühnte,
So klagt mich der weit Aermre an.


Der Mensch ist meistens reicher als er es denkt. Ja,
wenn wir den Ungenügsamen fragen, was Reichthum sey:
so wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit
hervorbringen können. Fragen wir, wer dürftig sey? so melden
sich tausend Stimmen: für reich aber mag sich niemand ausge-
ben. Undankbares Geschlecht! das dem allgütigsten Geber so
wenig Ehre zu machen sucht! Gleich dem unzufriedenen Land-
mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen
und vollen Aehren versteckt die bevorstehende Hungersnoth berech-
net, schreiet alles über Mangel und niemand hat zu viel. Aber
soltest du, Unersättlicher! nur die Hälfte von deinem Ueberfluß
verlieren: wie ungeberdig würdest du dich bei solcher wohlverdien-
ten Strafe anstellen!

Lasset uns nicht mit Worten spielen. Derjenige ist nicht
dürftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich müssen wir
den nennen, von dessen Vermögen noch zehn andre Menschen er-
halten werden könten. Wolten wir ja unser Vermögen unrichtig
angeben, so solten wir doch lieber von Reichthum und Wohlstand,
als immer von Armut reden. Jenes würde doch mehr Zufrie-
denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber sind wir miß-
vergnügten Unterthanen gleich, welche bei täglichen Lustbarkeiten
und Gelagen über unerschwingliche Abgaben seufzen, und doch
jede neue Mode mitmachen. Unverschämt ist es von uns Kost-
gängern, wenn wir die reichlich besetzte Tafel des grossen Haus-
vaters beständig bereden. Höchst unverschämt, wenn wir Din-
ge für nothwendig halten, ohne deren Besitz wir leben, gedeien

und


Der 23te Januar.
Hab ich nicht mehr, als ich verdiente?
Und mehr als ich verbrauchen kan?
Wenn ich zu klagen mich erkuͤhnte,
So klagt mich der weit Aermre an.


Der Menſch iſt meiſtens reicher als er es denkt. Ja,
wenn wir den Ungenuͤgſamen fragen, was Reichthum ſey:
ſo wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit
hervorbringen koͤnnen. Fragen wir, wer duͤrftig ſey? ſo melden
ſich tauſend Stimmen: fuͤr reich aber mag ſich niemand ausge-
ben. Undankbares Geſchlecht! das dem allguͤtigſten Geber ſo
wenig Ehre zu machen ſucht! Gleich dem unzufriedenen Land-
mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen
und vollen Aehren verſteckt die bevorſtehende Hungersnoth berech-
net, ſchreiet alles uͤber Mangel und niemand hat zu viel. Aber
ſolteſt du, Unerſaͤttlicher! nur die Haͤlfte von deinem Ueberfluß
verlieren: wie ungeberdig wuͤrdeſt du dich bei ſolcher wohlverdien-
ten Strafe anſtellen!

Laſſet uns nicht mit Worten ſpielen. Derjenige iſt nicht
duͤrftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich muͤſſen wir
den nennen, von deſſen Vermoͤgen noch zehn andre Menſchen er-
halten werden koͤnten. Wolten wir ja unſer Vermoͤgen unrichtig
angeben, ſo ſolten wir doch lieber von Reichthum und Wohlſtand,
als immer von Armut reden. Jenes wuͤrde doch mehr Zufrie-
denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber ſind wir miß-
vergnuͤgten Unterthanen gleich, welche bei taͤglichen Luſtbarkeiten
und Gelagen uͤber unerſchwingliche Abgaben ſeufzen, und doch
jede neue Mode mitmachen. Unverſchaͤmt iſt es von uns Koſt-
gaͤngern, wenn wir die reichlich beſetzte Tafel des groſſen Haus-
vaters beſtaͤndig bereden. Hoͤchſt unverſchaͤmt, wenn wir Din-
ge fuͤr nothwendig halten, ohne deren Beſitz wir leben, gedeien

und
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[47[77]/0084] Der 23te Januar. Hab ich nicht mehr, als ich verdiente? Und mehr als ich verbrauchen kan? Wenn ich zu klagen mich erkuͤhnte, So klagt mich der weit Aermre an. Der Menſch iſt meiſtens reicher als er es denkt. Ja, wenn wir den Ungenuͤgſamen fragen, was Reichthum ſey: ſo wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit hervorbringen koͤnnen. Fragen wir, wer duͤrftig ſey? ſo melden ſich tauſend Stimmen: fuͤr reich aber mag ſich niemand ausge- ben. Undankbares Geſchlecht! das dem allguͤtigſten Geber ſo wenig Ehre zu machen ſucht! Gleich dem unzufriedenen Land- mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen und vollen Aehren verſteckt die bevorſtehende Hungersnoth berech- net, ſchreiet alles uͤber Mangel und niemand hat zu viel. Aber ſolteſt du, Unerſaͤttlicher! nur die Haͤlfte von deinem Ueberfluß verlieren: wie ungeberdig wuͤrdeſt du dich bei ſolcher wohlverdien- ten Strafe anſtellen! Laſſet uns nicht mit Worten ſpielen. Derjenige iſt nicht duͤrftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich muͤſſen wir den nennen, von deſſen Vermoͤgen noch zehn andre Menſchen er- halten werden koͤnten. Wolten wir ja unſer Vermoͤgen unrichtig angeben, ſo ſolten wir doch lieber von Reichthum und Wohlſtand, als immer von Armut reden. Jenes wuͤrde doch mehr Zufrie- denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber ſind wir miß- vergnuͤgten Unterthanen gleich, welche bei taͤglichen Luſtbarkeiten und Gelagen uͤber unerſchwingliche Abgaben ſeufzen, und doch jede neue Mode mitmachen. Unverſchaͤmt iſt es von uns Koſt- gaͤngern, wenn wir die reichlich beſetzte Tafel des groſſen Haus- vaters beſtaͤndig bereden. Hoͤchſt unverſchaͤmt, wenn wir Din- ge fuͤr nothwendig halten, ohne deren Beſitz wir leben, gedeien und

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 47[77]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/84>, abgerufen am 27.11.2024.