die schneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unsre verschloßne Wohnungen, welche jetzt den Klosterzellen nicht unähnlich sind, hinzu; imgleichen unsre gezwungne und ungesunde Zusammenkünf- te, womit wir den langen Abend verkürzen wollen, bei welchen sich aber der zusammengepreßte Körper mit Nahrung und Dämpfen überladet, so scheinet mir jeder gesund überlebte Tag eine überstan- dene Schlacht zu seyn, aus der ich ohne Wunden zurückkomme.
Jedoch, nicht alle kommen unbeschädigt davon. Der späte Schmaus läßt sich so leicht nicht unbezahlt abweisen. Er greift entweder den Körper, oder die Heiterkeit und Unschuld der Seele an. Auf nächtlichen schwelgerischen Tafeln stehet auch Gift, und der Tanzsaal ist unterminiert. Ungeschminkte Gesichter werden nach Mitternacht immer blässer, gleich als wolte ihre Todtenfarbe sich einander nach Hause schrecken. Zugegeben, daß recht gesunde, bejahrte und tugendhafte Personen diesen Wintergefahren glück- lich zu entrinnen wissen: so zittre ich doch für diesen schwächlichen Jüngling, für jenes rosenwangigte Mädgen, und für jeden, der nichts anders als seine Lust denkt.
Kurz: der Winter stellt unsrer Gesundheit und unserm mo- ralischen Charakter so häufig nach, daß er wie schlüpfriges Eis, mich behutsam wandeln, und dir, mein Erhalter! für jeden über- standenen Tag inbrünstig danken heißt. Zwar will ich auch sein Gutes nicht verkennen, und auch seine Lustbarkeiten nicht verschmä- hen, wenn ich sie irgend mit unverletzter Gesundheit und Tugend geniessen kan: aber vorsichtiger sollen mich doch auch seine tausend Gefahren machen; denn wie darf ein Unvorsichtiger sich göttli- cher Errettung getrösten? Ich will über mich, und so viel mög- lich auch über andre wachen, auf daß uns der Winter nicht schäd- lich werde. Du aber, allgütigster Vater! gib mir ein weises Herz dazu. Bis hieher hast du mich so gnädig geholfen: ach! werde des Leitens nicht müde; sondern führ mich, dein Kind, auf ebner Bahn! Bewahr mich auch diese Winternacht vor allem Unheil: nur unter deinem Schirm kan ich den Morgen erleben!
Der
Der 22te Januar.
die ſchneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unſre verſchloßne Wohnungen, welche jetzt den Kloſterzellen nicht unaͤhnlich ſind, hinzu; imgleichen unſre gezwungne und ungeſunde Zuſammenkuͤnf- te, womit wir den langen Abend verkuͤrzen wollen, bei welchen ſich aber der zuſammengepreßte Koͤrper mit Nahrung und Daͤmpfen uͤberladet, ſo ſcheinet mir jeder geſund uͤberlebte Tag eine uͤberſtan- dene Schlacht zu ſeyn, aus der ich ohne Wunden zuruͤckkomme.
Jedoch, nicht alle kommen unbeſchaͤdigt davon. Der ſpaͤte Schmaus laͤßt ſich ſo leicht nicht unbezahlt abweiſen. Er greift entweder den Koͤrper, oder die Heiterkeit und Unſchuld der Seele an. Auf naͤchtlichen ſchwelgeriſchen Tafeln ſtehet auch Gift, und der Tanzſaal iſt unterminiert. Ungeſchminkte Geſichter werden nach Mitternacht immer blaͤſſer, gleich als wolte ihre Todtenfarbe ſich einander nach Hauſe ſchrecken. Zugegeben, daß recht geſunde, bejahrte und tugendhafte Perſonen dieſen Wintergefahren gluͤck- lich zu entrinnen wiſſen: ſo zittre ich doch fuͤr dieſen ſchwaͤchlichen Juͤngling, fuͤr jenes roſenwangigte Maͤdgen, und fuͤr jeden, der nichts anders als ſeine Luſt denkt.
Kurz: der Winter ſtellt unſrer Geſundheit und unſerm mo- raliſchen Charakter ſo haͤufig nach, daß er wie ſchluͤpfriges Eis, mich behutſam wandeln, und dir, mein Erhalter! fuͤr jeden uͤber- ſtandenen Tag inbruͤnſtig danken heißt. Zwar will ich auch ſein Gutes nicht verkennen, und auch ſeine Luſtbarkeiten nicht verſchmaͤ- hen, wenn ich ſie irgend mit unverletzter Geſundheit und Tugend genieſſen kan: aber vorſichtiger ſollen mich doch auch ſeine tauſend Gefahren machen; denn wie darf ein Unvorſichtiger ſich goͤttli- cher Errettung getroͤſten? Ich will uͤber mich, und ſo viel moͤg- lich auch uͤber andre wachen, auf daß uns der Winter nicht ſchaͤd- lich werde. Du aber, allguͤtigſter Vater! gib mir ein weiſes Herz dazu. Bis hieher haſt du mich ſo gnaͤdig geholfen: ach! werde des Leitens nicht muͤde; ſondern fuͤhr mich, dein Kind, auf ebner Bahn! Bewahr mich auch dieſe Winternacht vor allem Unheil: nur unter deinem Schirm kan ich den Morgen erleben!
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[46[76]/0083]
Der 22te Januar.
die ſchneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unſre verſchloßne
Wohnungen, welche jetzt den Kloſterzellen nicht unaͤhnlich ſind,
hinzu; imgleichen unſre gezwungne und ungeſunde Zuſammenkuͤnf-
te, womit wir den langen Abend verkuͤrzen wollen, bei welchen ſich
aber der zuſammengepreßte Koͤrper mit Nahrung und Daͤmpfen
uͤberladet, ſo ſcheinet mir jeder geſund uͤberlebte Tag eine uͤberſtan-
dene Schlacht zu ſeyn, aus der ich ohne Wunden zuruͤckkomme.
Jedoch, nicht alle kommen unbeſchaͤdigt davon. Der ſpaͤte
Schmaus laͤßt ſich ſo leicht nicht unbezahlt abweiſen. Er greift
entweder den Koͤrper, oder die Heiterkeit und Unſchuld der Seele
an. Auf naͤchtlichen ſchwelgeriſchen Tafeln ſtehet auch Gift, und
der Tanzſaal iſt unterminiert. Ungeſchminkte Geſichter werden
nach Mitternacht immer blaͤſſer, gleich als wolte ihre Todtenfarbe
ſich einander nach Hauſe ſchrecken. Zugegeben, daß recht geſunde,
bejahrte und tugendhafte Perſonen dieſen Wintergefahren gluͤck-
lich zu entrinnen wiſſen: ſo zittre ich doch fuͤr dieſen ſchwaͤchlichen
Juͤngling, fuͤr jenes roſenwangigte Maͤdgen, und fuͤr jeden, der
nichts anders als ſeine Luſt denkt.
Kurz: der Winter ſtellt unſrer Geſundheit und unſerm mo-
raliſchen Charakter ſo haͤufig nach, daß er wie ſchluͤpfriges Eis,
mich behutſam wandeln, und dir, mein Erhalter! fuͤr jeden uͤber-
ſtandenen Tag inbruͤnſtig danken heißt. Zwar will ich auch ſein
Gutes nicht verkennen, und auch ſeine Luſtbarkeiten nicht verſchmaͤ-
hen, wenn ich ſie irgend mit unverletzter Geſundheit und Tugend
genieſſen kan: aber vorſichtiger ſollen mich doch auch ſeine tauſend
Gefahren machen; denn wie darf ein Unvorſichtiger ſich goͤttli-
cher Errettung getroͤſten? Ich will uͤber mich, und ſo viel moͤg-
lich auch uͤber andre wachen, auf daß uns der Winter nicht ſchaͤd-
lich werde. Du aber, allguͤtigſter Vater! gib mir ein weiſes Herz
dazu. Bis hieher haſt du mich ſo gnaͤdig geholfen: ach! werde
des Leitens nicht muͤde; ſondern fuͤhr mich, dein Kind, auf ebner
Bahn! Bewahr mich auch dieſe Winternacht vor allem Unheil:
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 46[76]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/83>, abgerufen am 22.07.2024.
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