Ach! als ich einst, ein Kind, erbebte, Wenn mir das Laster sichtbar ward; Als ich, ganz Unschuld, spielt' und lebte: Da war mein Herz nicht wild, nicht hart: So folgsam, ohne Falsch, so kindlich muß ich seyn: Sonst geh ich nicht zum Himmel ein.
Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit versetzt uns in eine vormalige Welt, worin wir für die jetzige viel lernen können. Wie erstaunend habe ich mich doch verändert, wenn ich mich jetzt gegen meine früheste Kindheit betrachte! Mein Kör- per hat sich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu- thete; meine Gesichtsbildung, wie verändert! meine Denkungs- art und Einsichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schicksal, wie wunderbar ist es! Hieng das alles aber wol von meiner Willkühr ab? War ich der Schöpfer meines Geschicks? Ich bin ja der Mensch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel unnützes habe ich gelernt! wie viel nützliches vergessen! Wie der Same von Bäumen und Pflanzen durch Winde oder Vögel von einer Gegend in die andre geführet wird: so werden auch Menschen in andre Provinzen versetzt oder verschleudert. Das beweiset mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unsre Wiegen standen entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Hände, und vieleicht stehen unsre Särge dereinst beisammen. Jedoch, ich rede jetzt von meinen Kinderjahren.
Hier sitze ich denn, nach so vielen überstanbnen Jahren, gleichsam auf einer Anhöhe, und durchmustre mein vergangnes Leben. Es ist mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede
Flur
C 3
Der 18te Januar.
Ach! als ich einſt, ein Kind, erbebte, Wenn mir das Laſter ſichtbar ward; Als ich, ganz Unſchuld, ſpielt’ und lebte: Da war mein Herz nicht wild, nicht hart: So folgſam, ohne Falſch, ſo kindlich muß ich ſeyn: Sonſt geh ich nicht zum Himmel ein.
Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit verſetzt uns in eine vormalige Welt, worin wir fuͤr die jetzige viel lernen koͤnnen. Wie erſtaunend habe ich mich doch veraͤndert, wenn ich mich jetzt gegen meine fruͤheſte Kindheit betrachte! Mein Koͤr- per hat ſich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu- thete; meine Geſichtsbildung, wie veraͤndert! meine Denkungs- art und Einſichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schickſal, wie wunderbar iſt es! Hieng das alles aber wol von meiner Willkuͤhr ab? War ich der Schoͤpfer meines Geſchicks? Ich bin ja der Menſch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel unnuͤtzes habe ich gelernt! wie viel nuͤtzliches vergeſſen! Wie der Same von Baͤumen und Pflanzen durch Winde oder Voͤgel von einer Gegend in die andre gefuͤhret wird: ſo werden auch Menſchen in andre Provinzen verſetzt oder verſchleudert. Das beweiſet mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unſre Wiegen ſtanden entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Haͤnde, und vieleicht ſtehen unſre Saͤrge dereinſt beiſammen. Jedoch, ich rede jetzt von meinen Kinderjahren.
Hier ſitze ich denn, nach ſo vielen uͤberſtanbnen Jahren, gleichſam auf einer Anhoͤhe, und durchmuſtre mein vergangnes Leben. Es iſt mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede
Flur
C 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0074"n="37[67]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 18<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">A</hi>ch! als ich einſt, ein Kind, erbebte,</l><lb/><l>Wenn mir das Laſter ſichtbar ward;</l><lb/><l>Als ich, ganz Unſchuld, ſpielt’ und lebte:</l><lb/><l>Da war mein Herz nicht wild, nicht hart:</l><lb/><l>So folgſam, ohne Falſch, ſo kindlich muß ich ſeyn:</l><lb/><l>Sonſt geh ich nicht zum Himmel ein.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>ede <hirendition="#fr">Erinnerung der Jahre der Kindheit</hi> verſetzt uns<lb/>
in eine vormalige Welt, worin wir fuͤr die jetzige viel lernen<lb/>
koͤnnen. Wie erſtaunend habe ich mich doch veraͤndert, wenn<lb/>
ich mich jetzt gegen meine fruͤheſte Kindheit betrachte! Mein Koͤr-<lb/>
per hat ſich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu-<lb/>
thete; meine Geſichtsbildung, wie veraͤndert! meine Denkungs-<lb/>
art und Einſichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schickſal,<lb/>
wie wunderbar iſt es! Hieng das alles aber wol von meiner<lb/>
Willkuͤhr ab? War ich der Schoͤpfer meines Geſchicks? Ich bin<lb/>
ja der Menſch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel<lb/>
unnuͤtzes habe ich gelernt! wie viel nuͤtzliches vergeſſen! Wie der<lb/>
Same von Baͤumen und Pflanzen durch Winde oder Voͤgel<lb/>
von einer Gegend in die andre gefuͤhret wird: ſo werden auch<lb/>
Menſchen in andre Provinzen verſetzt oder verſchleudert. Das<lb/>
beweiſet mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unſre Wiegen<lb/>ſtanden entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Haͤnde,<lb/>
und vieleicht ſtehen unſre Saͤrge dereinſt beiſammen. Jedoch, ich<lb/>
rede jetzt von meinen Kinderjahren.</p><lb/><p>Hier ſitze ich denn, nach ſo vielen uͤberſtanbnen Jahren,<lb/>
gleichſam auf einer Anhoͤhe, und durchmuſtre mein vergangnes<lb/>
Leben. Es iſt mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede<lb/><fwplace="bottom"type="sig">C 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Flur</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[37[67]/0074]
Der 18te Januar.
Ach! als ich einſt, ein Kind, erbebte,
Wenn mir das Laſter ſichtbar ward;
Als ich, ganz Unſchuld, ſpielt’ und lebte:
Da war mein Herz nicht wild, nicht hart:
So folgſam, ohne Falſch, ſo kindlich muß ich ſeyn:
Sonſt geh ich nicht zum Himmel ein.
Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit verſetzt uns
in eine vormalige Welt, worin wir fuͤr die jetzige viel lernen
koͤnnen. Wie erſtaunend habe ich mich doch veraͤndert, wenn
ich mich jetzt gegen meine fruͤheſte Kindheit betrachte! Mein Koͤr-
per hat ſich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu-
thete; meine Geſichtsbildung, wie veraͤndert! meine Denkungs-
art und Einſichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schickſal,
wie wunderbar iſt es! Hieng das alles aber wol von meiner
Willkuͤhr ab? War ich der Schoͤpfer meines Geſchicks? Ich bin
ja der Menſch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel
unnuͤtzes habe ich gelernt! wie viel nuͤtzliches vergeſſen! Wie der
Same von Baͤumen und Pflanzen durch Winde oder Voͤgel
von einer Gegend in die andre gefuͤhret wird: ſo werden auch
Menſchen in andre Provinzen verſetzt oder verſchleudert. Das
beweiſet mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unſre Wiegen
ſtanden entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Haͤnde,
und vieleicht ſtehen unſre Saͤrge dereinſt beiſammen. Jedoch, ich
rede jetzt von meinen Kinderjahren.
Hier ſitze ich denn, nach ſo vielen uͤberſtanbnen Jahren,
gleichſam auf einer Anhoͤhe, und durchmuſtre mein vergangnes
Leben. Es iſt mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede
Flur
C 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 37[67]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/74>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.