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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 18te Januar.
Ach! als ich einst, ein Kind, erbebte,
Wenn mir das Laster sichtbar ward;
Als ich, ganz Unschuld, spielt' und lebte:
Da war mein Herz nicht wild, nicht hart:
So folgsam, ohne Falsch, so kindlich muß ich seyn:
Sonst geh ich nicht zum Himmel ein.


Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit versetzt uns
in eine vormalige Welt, worin wir für die jetzige viel lernen
können. Wie erstaunend habe ich mich doch verändert, wenn
ich mich jetzt gegen meine früheste Kindheit betrachte! Mein Kör-
per hat sich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu-
thete; meine Gesichtsbildung, wie verändert! meine Denkungs-
art und Einsichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schicksal,
wie wunderbar ist es! Hieng das alles aber wol von meiner
Willkühr ab? War ich der Schöpfer meines Geschicks? Ich bin
ja der Mensch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel
unnützes habe ich gelernt! wie viel nützliches vergessen! Wie der
Same von Bäumen und Pflanzen durch Winde oder Vögel
von einer Gegend in die andre geführet wird: so werden auch
Menschen in andre Provinzen versetzt oder verschleudert. Das
beweiset mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unsre Wiegen
standen entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Hände,
und vieleicht stehen unsre Särge dereinst beisammen. Jedoch, ich
rede jetzt von meinen Kinderjahren.

Hier sitze ich denn, nach so vielen überstanbnen Jahren,
gleichsam auf einer Anhöhe, und durchmustre mein vergangnes
Leben. Es ist mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede

Flur
C 3


Der 18te Januar.
Ach! als ich einſt, ein Kind, erbebte,
Wenn mir das Laſter ſichtbar ward;
Als ich, ganz Unſchuld, ſpielt’ und lebte:
Da war mein Herz nicht wild, nicht hart:
So folgſam, ohne Falſch, ſo kindlich muß ich ſeyn:
Sonſt geh ich nicht zum Himmel ein.


Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit verſetzt uns
in eine vormalige Welt, worin wir fuͤr die jetzige viel lernen
koͤnnen. Wie erſtaunend habe ich mich doch veraͤndert, wenn
ich mich jetzt gegen meine fruͤheſte Kindheit betrachte! Mein Koͤr-
per hat ſich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu-
thete; meine Geſichtsbildung, wie veraͤndert! meine Denkungs-
art und Einſichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schickſal,
wie wunderbar iſt es! Hieng das alles aber wol von meiner
Willkuͤhr ab? War ich der Schoͤpfer meines Geſchicks? Ich bin
ja der Menſch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel
unnuͤtzes habe ich gelernt! wie viel nuͤtzliches vergeſſen! Wie der
Same von Baͤumen und Pflanzen durch Winde oder Voͤgel
von einer Gegend in die andre gefuͤhret wird: ſo werden auch
Menſchen in andre Provinzen verſetzt oder verſchleudert. Das
beweiſet mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unſre Wiegen
ſtanden entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Haͤnde,
und vieleicht ſtehen unſre Saͤrge dereinſt beiſammen. Jedoch, ich
rede jetzt von meinen Kinderjahren.

Hier ſitze ich denn, nach ſo vielen uͤberſtanbnen Jahren,
gleichſam auf einer Anhoͤhe, und durchmuſtre mein vergangnes
Leben. Es iſt mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede

Flur
C 3
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[37[67]/0074] Der 18te Januar. Ach! als ich einſt, ein Kind, erbebte, Wenn mir das Laſter ſichtbar ward; Als ich, ganz Unſchuld, ſpielt’ und lebte: Da war mein Herz nicht wild, nicht hart: So folgſam, ohne Falſch, ſo kindlich muß ich ſeyn: Sonſt geh ich nicht zum Himmel ein. Jede Erinnerung der Jahre der Kindheit verſetzt uns in eine vormalige Welt, worin wir fuͤr die jetzige viel lernen koͤnnen. Wie erſtaunend habe ich mich doch veraͤndert, wenn ich mich jetzt gegen meine fruͤheſte Kindheit betrachte! Mein Koͤr- per hat ſich ganz anders entwickelt, als man es damals vermu- thete; meine Geſichtsbildung, wie veraͤndert! meine Denkungs- art und Einſichten, wie verwandelt! und mein ganzes Schickſal, wie wunderbar iſt es! Hieng das alles aber wol von meiner Willkuͤhr ab? War ich der Schoͤpfer meines Geſchicks? Ich bin ja der Menſch lange nicht, der ich zu werden gedachte! Wie viel unnuͤtzes habe ich gelernt! wie viel nuͤtzliches vergeſſen! Wie der Same von Baͤumen und Pflanzen durch Winde oder Voͤgel von einer Gegend in die andre gefuͤhret wird: ſo werden auch Menſchen in andre Provinzen verſetzt oder verſchleudert. Das beweiſet mir der Eirkel meiner jetzigen Freunde. Unſre Wiegen ſtanden entfernt von einander; jetzt reichen wir uns die Haͤnde, und vieleicht ſtehen unſre Saͤrge dereinſt beiſammen. Jedoch, ich rede jetzt von meinen Kinderjahren. Hier ſitze ich denn, nach ſo vielen uͤberſtanbnen Jahren, gleichſam auf einer Anhoͤhe, und durchmuſtre mein vergangnes Leben. Es iſt mit Dornen und Blumen untermengt, wie jede Flur C 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 37[67]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/74>, abgerufen am 27.11.2024.