Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 17te Januar.
Feinde! die ihr im Grabe ruht,
Bei euch will ich jetzt noch wachen!
Ihr dachtet es böse zu machen:
Und dennoch machte Gott es gut.


Verstorbene Feinde! -- Jedoch euer Tod hat uns schon
ausgesöhnet! Freunde also, die ihr in eurem Leben eure
Brust nicht an die meinige drücken mogtet, sondern durch Tem-
perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet!
Jedoch, was beschuldige ich euch, da die meiste Schuld unsers
Zwistes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geister! will
ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich
Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung
verstanden, als wir uns ehedem entzweiten!

Pilger müssen sich nicht anfeinden. Die Wanderschaft
dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit ist zu viel, und die Zän-
kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke
unter einander anstossen und an dem Gang zum Vaterlande hin-
dern solten. Ihr, meine nun schon verwesende Widersacher! habt
es, aller Wahrscheinlichkeit nach, während eures Todeskampfs,
mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde gewesen waren: und ich
bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die
wir über unsern Zorn nntergehen lassen, wird dereinst, wenn uns
die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un-
sern Gebeinen. Nichts ist schrecklicher, als Beleidigungen mit
sich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?

Alle Zänkereien der Sterblichen sind Kleinigkeiten. So heiß-
hungrig wir auch über unsere Vortheile wachen, und das Mein
und Dein für den Hauptzweck unsers Daseyns halten: so haben
wir zur Ewigkeit bestimte Menschen doch unendlich wichtigere Ge-
schäfte. Hundert Prozesse gewonnen oder verloren, sind nicht so
viel werth, als der Becher kaltes Wasser, den wir einem Armen

und
C 2


Der 17te Januar.
Feinde! die ihr im Grabe ruht,
Bei euch will ich jetzt noch wachen!
Ihr dachtet es boͤſe zu machen:
Und dennoch machte Gott es gut.


Verſtorbene Feinde! — Jedoch euer Tod hat uns ſchon
ausgeſoͤhnet! Freunde alſo, die ihr in eurem Leben eure
Bruſt nicht an die meinige druͤcken mogtet, ſondern durch Tem-
perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet!
Jedoch, was beſchuldige ich euch, da die meiſte Schuld unſers
Zwiſtes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geiſter! will
ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich
Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung
verſtanden, als wir uns ehedem entzweiten!

Pilger muͤſſen ſich nicht anfeinden. Die Wanderſchaft
dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit iſt zu viel, und die Zaͤn-
kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke
unter einander anſtoſſen und an dem Gang zum Vaterlande hin-
dern ſolten. Ihr, meine nun ſchon verweſende Widerſacher! habt
es, aller Wahrſcheinlichkeit nach, waͤhrend eures Todeskampfs,
mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde geweſen waren: und ich
bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die
wir uͤber unſern Zorn nntergehen laſſen, wird dereinſt, wenn uns
die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un-
ſern Gebeinen. Nichts iſt ſchrecklicher, als Beleidigungen mit
ſich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?

Alle Zaͤnkereien der Sterblichen ſind Kleinigkeiten. So heiß-
hungrig wir auch uͤber unſere Vortheile wachen, und das Mein
und Dein fuͤr den Hauptzweck unſers Daſeyns halten: ſo haben
wir zur Ewigkeit beſtimte Menſchen doch unendlich wichtigere Ge-
ſchaͤfte. Hundert Prozeſſe gewonnen oder verloren, ſind nicht ſo
viel werth, als der Becher kaltes Waſſer, den wir einem Armen

und
C 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0072" n="35[65]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 17<hi rendition="#sup">te</hi> Januar.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">F</hi>einde! die ihr im Grabe ruht,</l><lb/>
              <l>Bei euch will ich jetzt noch wachen!</l><lb/>
              <l>Ihr dachtet es bo&#x0364;&#x017F;e zu machen:</l><lb/>
              <l>Und dennoch machte Gott es gut.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">V</hi><hi rendition="#fr">er&#x017F;torbene Feinde!</hi> &#x2014; Jedoch euer Tod hat uns &#x017F;chon<lb/>
ausge&#x017F;o&#x0364;hnet! Freunde al&#x017F;o, die ihr in eurem Leben eure<lb/>
Bru&#x017F;t nicht an die meinige dru&#x0364;cken mogtet, &#x017F;ondern durch Tem-<lb/>
perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet!<lb/>
Jedoch, was be&#x017F;chuldige ich euch, da die mei&#x017F;te Schuld un&#x017F;ers<lb/>
Zwi&#x017F;tes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Gei&#x017F;ter! will<lb/>
ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich<lb/>
Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung<lb/>
ver&#x017F;tanden, als wir uns ehedem entzweiten!</p><lb/>
            <p>Pilger mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich nicht anfeinden. Die Wander&#x017F;chaft<lb/>
dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit i&#x017F;t zu viel, und die Za&#x0364;n-<lb/>
kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke<lb/>
unter einander an&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en und an dem Gang zum Vaterlande hin-<lb/>
dern &#x017F;olten. Ihr, meine nun &#x017F;chon verwe&#x017F;ende Wider&#x017F;acher! habt<lb/>
es, aller Wahr&#x017F;cheinlichkeit nach, wa&#x0364;hrend eures Todeskampfs,<lb/>
mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde gewe&#x017F;en waren: und ich<lb/>
bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die<lb/>
wir u&#x0364;ber un&#x017F;ern Zorn nntergehen la&#x017F;&#x017F;en, wird derein&#x017F;t, wenn uns<lb/>
die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un-<lb/>
&#x017F;ern Gebeinen. Nichts i&#x017F;t &#x017F;chrecklicher, als Beleidigungen mit<lb/>
&#x017F;ich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?</p><lb/>
            <p>Alle Za&#x0364;nkereien der Sterblichen &#x017F;ind Kleinigkeiten. So heiß-<lb/>
hungrig wir auch u&#x0364;ber un&#x017F;ere Vortheile wachen, und das Mein<lb/>
und Dein fu&#x0364;r den Hauptzweck un&#x017F;ers Da&#x017F;eyns halten: &#x017F;o haben<lb/>
wir zur Ewigkeit be&#x017F;timte Men&#x017F;chen doch unendlich wichtigere Ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;fte. Hundert Proze&#x017F;&#x017F;e gewonnen oder verloren, &#x017F;ind nicht &#x017F;o<lb/>
viel werth, als der Becher kaltes Wa&#x017F;&#x017F;er, den wir einem Armen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 2</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35[65]/0072] Der 17te Januar. Feinde! die ihr im Grabe ruht, Bei euch will ich jetzt noch wachen! Ihr dachtet es boͤſe zu machen: Und dennoch machte Gott es gut. Verſtorbene Feinde! — Jedoch euer Tod hat uns ſchon ausgeſoͤhnet! Freunde alſo, die ihr in eurem Leben eure Bruſt nicht an die meinige druͤcken mogtet, ſondern durch Tem- perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet! Jedoch, was beſchuldige ich euch, da die meiſte Schuld unſers Zwiſtes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geiſter! will ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung verſtanden, als wir uns ehedem entzweiten! Pilger muͤſſen ſich nicht anfeinden. Die Wanderſchaft dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit iſt zu viel, und die Zaͤn- kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke unter einander anſtoſſen und an dem Gang zum Vaterlande hin- dern ſolten. Ihr, meine nun ſchon verweſende Widerſacher! habt es, aller Wahrſcheinlichkeit nach, waͤhrend eures Todeskampfs, mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde geweſen waren: und ich bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die wir uͤber unſern Zorn nntergehen laſſen, wird dereinſt, wenn uns die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un- ſern Gebeinen. Nichts iſt ſchrecklicher, als Beleidigungen mit ſich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns? Alle Zaͤnkereien der Sterblichen ſind Kleinigkeiten. So heiß- hungrig wir auch uͤber unſere Vortheile wachen, und das Mein und Dein fuͤr den Hauptzweck unſers Daſeyns halten: ſo haben wir zur Ewigkeit beſtimte Menſchen doch unendlich wichtigere Ge- ſchaͤfte. Hundert Prozeſſe gewonnen oder verloren, ſind nicht ſo viel werth, als der Becher kaltes Waſſer, den wir einem Armen und C 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/72
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 35[65]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/72>, abgerufen am 03.12.2024.