Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 12te Januar.
Nie seufze jemand wider mich!
Mein ganzes Herz bestrebe sich
Dem Nächsten gern zu gebeu,
Was er mit Recht verlangen kan;
Und immerfort mit jedermann
In Ewigkeit zu leben.


Die Klagen über Mangel an Freunden sind fast allgemein: an
wem mag doch die Schuld davon lieben? In unsrer Jugend
klagen wir darüber nicht: aber je älter, reicher und vornehmer
wir werden, desto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu
fehlen. Solten wir uns nicht selbst Vorwürfe zu machen haben,
statt daß wir alle Menschen der Falschheit beschuldigen? Ich will
mich jetzt genauer deswegen zur Rede stellen. Mein Betra-
gen gegen der Nächsten
erfodert öftere Untersuchungen die-
ser Art.

Fast täglich gehe ich mit vielen Menschen, verschiedenen
Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen
verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewisses Betra-
gen, welches er für meine Pflicht gegen ihn hält. Ein unrechtes
Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, sind hinlänglich, ihn
wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man
leicht: je mehr Vorzüge wir aber besitzen, desto schärfer behandelt
man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtsinnig ich die mei-
sten abfertige; wie sehr ich mich und wie wenig ich sie in Gedan-
ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: so darf es mich nicht be-
fremden, wenn sich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem
heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein
böses Herz ausgesäet, (und das haben doch sehr viele!) trägt zu
seiner Zeit bittre Früchte für mich. Ich aber, der ich mich blos
für den leidenden Theil halte, fahre alsdenn darüber auf und sinne
nicht selten auf Rache. Gewiß, ich würde erschrecken, wenn ich

wüßte,
B 5


Der 12te Januar.
Nie ſeufze jemand wider mich!
Mein ganzes Herz beſtrebe ſich
Dem Naͤchſten gern zu gebeu,
Was er mit Recht verlangen kan;
Und immerfort mit jedermann
In Ewigkeit zu leben.


Die Klagen uͤber Mangel an Freunden ſind faſt allgemein: an
wem mag doch die Schuld davon lieben? In unſrer Jugend
klagen wir daruͤber nicht: aber je aͤlter, reicher und vornehmer
wir werden, deſto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu
fehlen. Solten wir uns nicht ſelbſt Vorwuͤrfe zu machen haben,
ſtatt daß wir alle Menſchen der Falſchheit beſchuldigen? Ich will
mich jetzt genauer deswegen zur Rede ſtellen. Mein Betra-
gen gegen der Naͤchſten
erfodert oͤftere Unterſuchungen die-
ſer Art.

Faſt taͤglich gehe ich mit vielen Menſchen, verſchiedenen
Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen
verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewiſſes Betra-
gen, welches er fuͤr meine Pflicht gegen ihn haͤlt. Ein unrechtes
Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, ſind hinlaͤnglich, ihn
wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man
leicht: je mehr Vorzuͤge wir aber beſitzen, deſto ſchaͤrfer behandelt
man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtſinnig ich die mei-
ſten abfertige; wie ſehr ich mich und wie wenig ich ſie in Gedan-
ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: ſo darf es mich nicht be-
fremden, wenn ſich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem
heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein
boͤſes Herz ausgeſaͤet, (und das haben doch ſehr viele!) traͤgt zu
ſeiner Zeit bittre Fruͤchte fuͤr mich. Ich aber, der ich mich blos
fuͤr den leidenden Theil halte, fahre alsdenn daruͤber auf und ſinne
nicht ſelten auf Rache. Gewiß, ich wuͤrde erſchrecken, wenn ich

wuͤßte,
B 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0062" n="25[55]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 12<hi rendition="#sup">te</hi> Januar.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">N</hi>ie &#x017F;eufze jemand wider mich!</l><lb/>
              <l>Mein ganzes Herz be&#x017F;trebe &#x017F;ich</l><lb/>
              <l>Dem Na&#x0364;ch&#x017F;ten gern zu gebeu,</l><lb/>
              <l>Was er mit Recht verlangen kan;</l><lb/>
              <l>Und immerfort mit jedermann</l><lb/>
              <l>In Ewigkeit zu leben.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Klagen u&#x0364;ber Mangel an Freunden &#x017F;ind fa&#x017F;t allgemein: an<lb/>
wem mag doch die Schuld davon lieben? In un&#x017F;rer Jugend<lb/>
klagen wir daru&#x0364;ber nicht: aber je a&#x0364;lter, reicher und vornehmer<lb/>
wir werden, de&#x017F;to mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu<lb/>
fehlen. Solten wir uns nicht &#x017F;elb&#x017F;t Vorwu&#x0364;rfe zu machen haben,<lb/>
&#x017F;tatt daß wir alle Men&#x017F;chen der Fal&#x017F;chheit be&#x017F;chuldigen? Ich will<lb/>
mich jetzt genauer deswegen zur Rede &#x017F;tellen. <hi rendition="#fr">Mein Betra-<lb/>
gen gegen der Na&#x0364;ch&#x017F;ten</hi> erfodert o&#x0364;ftere Unter&#x017F;uchungen die-<lb/>
&#x017F;er Art.</p><lb/>
            <p>Fa&#x017F;t ta&#x0364;glich gehe ich mit vielen Men&#x017F;chen, ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen<lb/>
verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewi&#x017F;&#x017F;es Betra-<lb/>
gen, welches er fu&#x0364;r meine Pflicht gegen ihn ha&#x0364;lt. Ein unrechtes<lb/>
Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, &#x017F;ind hinla&#x0364;nglich, ihn<lb/>
wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man<lb/>
leicht: je mehr Vorzu&#x0364;ge wir aber be&#x017F;itzen, de&#x017F;to &#x017F;cha&#x0364;rfer behandelt<lb/>
man uns. Halte ich nun dagegen, wie leicht&#x017F;innig ich die mei-<lb/>
&#x017F;ten abfertige; wie &#x017F;ehr ich mich und wie wenig ich &#x017F;ie in Gedan-<lb/>
ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: &#x017F;o darf es mich nicht be-<lb/>
fremden, wenn &#x017F;ich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem<lb/>
heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein<lb/>
bo&#x0364;&#x017F;es Herz ausge&#x017F;a&#x0364;et, (und das haben doch &#x017F;ehr viele!) tra&#x0364;gt zu<lb/>
&#x017F;einer Zeit bittre Fru&#x0364;chte fu&#x0364;r mich. Ich aber, der ich mich blos<lb/>
fu&#x0364;r den leidenden Theil halte, fahre alsdenn daru&#x0364;ber auf und &#x017F;inne<lb/>
nicht &#x017F;elten auf Rache. Gewiß, ich wu&#x0364;rde er&#x017F;chrecken, wenn ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 5</fw><fw place="bottom" type="catch">wu&#x0364;ßte,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25[55]/0062] Der 12te Januar. Nie ſeufze jemand wider mich! Mein ganzes Herz beſtrebe ſich Dem Naͤchſten gern zu gebeu, Was er mit Recht verlangen kan; Und immerfort mit jedermann In Ewigkeit zu leben. Die Klagen uͤber Mangel an Freunden ſind faſt allgemein: an wem mag doch die Schuld davon lieben? In unſrer Jugend klagen wir daruͤber nicht: aber je aͤlter, reicher und vornehmer wir werden, deſto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu fehlen. Solten wir uns nicht ſelbſt Vorwuͤrfe zu machen haben, ſtatt daß wir alle Menſchen der Falſchheit beſchuldigen? Ich will mich jetzt genauer deswegen zur Rede ſtellen. Mein Betra- gen gegen der Naͤchſten erfodert oͤftere Unterſuchungen die- ſer Art. Faſt taͤglich gehe ich mit vielen Menſchen, verſchiedenen Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewiſſes Betra- gen, welches er fuͤr meine Pflicht gegen ihn haͤlt. Ein unrechtes Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, ſind hinlaͤnglich, ihn wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man leicht: je mehr Vorzuͤge wir aber beſitzen, deſto ſchaͤrfer behandelt man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtſinnig ich die mei- ſten abfertige; wie ſehr ich mich und wie wenig ich ſie in Gedan- ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: ſo darf es mich nicht be- fremden, wenn ſich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein boͤſes Herz ausgeſaͤet, (und das haben doch ſehr viele!) traͤgt zu ſeiner Zeit bittre Fruͤchte fuͤr mich. Ich aber, der ich mich blos fuͤr den leidenden Theil halte, fahre alsdenn daruͤber auf und ſinne nicht ſelten auf Rache. Gewiß, ich wuͤrde erſchrecken, wenn ich wuͤßte, B 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/62
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 25[55]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/62>, abgerufen am 23.11.2024.