Nie seufze jemand wider mich! Mein ganzes Herz bestrebe sich Dem Nächsten gern zu gebeu, Was er mit Recht verlangen kan; Und immerfort mit jedermann In Ewigkeit zu leben.
Die Klagen über Mangel an Freunden sind fast allgemein: an wem mag doch die Schuld davon lieben? In unsrer Jugend klagen wir darüber nicht: aber je älter, reicher und vornehmer wir werden, desto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu fehlen. Solten wir uns nicht selbst Vorwürfe zu machen haben, statt daß wir alle Menschen der Falschheit beschuldigen? Ich will mich jetzt genauer deswegen zur Rede stellen. Mein Betra- gen gegen der Nächsten erfodert öftere Untersuchungen die- ser Art.
Fast täglich gehe ich mit vielen Menschen, verschiedenen Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewisses Betra- gen, welches er für meine Pflicht gegen ihn hält. Ein unrechtes Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, sind hinlänglich, ihn wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man leicht: je mehr Vorzüge wir aber besitzen, desto schärfer behandelt man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtsinnig ich die mei- sten abfertige; wie sehr ich mich und wie wenig ich sie in Gedan- ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: so darf es mich nicht be- fremden, wenn sich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein böses Herz ausgesäet, (und das haben doch sehr viele!) trägt zu seiner Zeit bittre Früchte für mich. Ich aber, der ich mich blos für den leidenden Theil halte, fahre alsdenn darüber auf und sinne nicht selten auf Rache. Gewiß, ich würde erschrecken, wenn ich
wüßte,
B 5
Der 12te Januar.
Nie ſeufze jemand wider mich! Mein ganzes Herz beſtrebe ſich Dem Naͤchſten gern zu gebeu, Was er mit Recht verlangen kan; Und immerfort mit jedermann In Ewigkeit zu leben.
Die Klagen uͤber Mangel an Freunden ſind faſt allgemein: an wem mag doch die Schuld davon lieben? In unſrer Jugend klagen wir daruͤber nicht: aber je aͤlter, reicher und vornehmer wir werden, deſto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu fehlen. Solten wir uns nicht ſelbſt Vorwuͤrfe zu machen haben, ſtatt daß wir alle Menſchen der Falſchheit beſchuldigen? Ich will mich jetzt genauer deswegen zur Rede ſtellen. Mein Betra- gen gegen der Naͤchſten erfodert oͤftere Unterſuchungen die- ſer Art.
Faſt taͤglich gehe ich mit vielen Menſchen, verſchiedenen Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewiſſes Betra- gen, welches er fuͤr meine Pflicht gegen ihn haͤlt. Ein unrechtes Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, ſind hinlaͤnglich, ihn wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man leicht: je mehr Vorzuͤge wir aber beſitzen, deſto ſchaͤrfer behandelt man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtſinnig ich die mei- ſten abfertige; wie ſehr ich mich und wie wenig ich ſie in Gedan- ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: ſo darf es mich nicht be- fremden, wenn ſich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein boͤſes Herz ausgeſaͤet, (und das haben doch ſehr viele!) traͤgt zu ſeiner Zeit bittre Fruͤchte fuͤr mich. Ich aber, der ich mich blos fuͤr den leidenden Theil halte, fahre alsdenn daruͤber auf und ſinne nicht ſelten auf Rache. Gewiß, ich wuͤrde erſchrecken, wenn ich
wuͤßte,
B 5
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[25[55]/0062]
Der 12te Januar.
Nie ſeufze jemand wider mich!
Mein ganzes Herz beſtrebe ſich
Dem Naͤchſten gern zu gebeu,
Was er mit Recht verlangen kan;
Und immerfort mit jedermann
In Ewigkeit zu leben.
Die Klagen uͤber Mangel an Freunden ſind faſt allgemein: an
wem mag doch die Schuld davon lieben? In unſrer Jugend
klagen wir daruͤber nicht: aber je aͤlter, reicher und vornehmer
wir werden, deſto mehr pflegt es uns an redlichen Freunden zu
fehlen. Solten wir uns nicht ſelbſt Vorwuͤrfe zu machen haben,
ſtatt daß wir alle Menſchen der Falſchheit beſchuldigen? Ich will
mich jetzt genauer deswegen zur Rede ſtellen. Mein Betra-
gen gegen der Naͤchſten erfodert oͤftere Unterſuchungen die-
ſer Art.
Faſt taͤglich gehe ich mit vielen Menſchen, verſchiedenen
Standes, Alters und Temperaments, um. Ein jeder von ihnen
verlanget mit Recht, vieleicht mit Unrecht, ein gewiſſes Betra-
gen, welches er fuͤr meine Pflicht gegen ihn haͤlt. Ein unrechtes
Wort, Eine von ihm unerwartete Miene, ſind hinlaͤnglich, ihn
wider mich aufzubringen. Kindern und Bettlern verzeihet man
leicht: je mehr Vorzuͤge wir aber beſitzen, deſto ſchaͤrfer behandelt
man uns. Halte ich nun dagegen, wie leichtſinnig ich die mei-
ſten abfertige; wie ſehr ich mich und wie wenig ich ſie in Gedan-
ken habe, wenn ich mit ihnen umgehe: ſo darf es mich nicht be-
fremden, wenn ſich viele, ohne daß ich es vermuthe, mit einem
heimlichen Unwillen von mir hinwegbegeben. Und Unwillen in ein
boͤſes Herz ausgeſaͤet, (und das haben doch ſehr viele!) traͤgt zu
ſeiner Zeit bittre Fruͤchte fuͤr mich. Ich aber, der ich mich blos
fuͤr den leidenden Theil halte, fahre alsdenn daruͤber auf und ſinne
nicht ſelten auf Rache. Gewiß, ich wuͤrde erſchrecken, wenn ich
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 25[55]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/62>, abgerufen am 23.11.2024.
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