muß erst einen verklärten Körper, oder einen Geist haben, der nicht so sehr von groben Sinnen abhängt; ich muß erst beßre Ge- sellschafter und ein von Vorwürfen freieres Gewissen haben, ehe ich beständigen Sonnenschein erwarten darf. Sünde und Freude leben in der größten Antlpathie.
Wie murren denn die Leute im Leben also? ein jeglicher murre wider seine Sünde! Gerne vergönnte uns Gott Freuden und Entzücken: aber er versagt sie uns Unmündigen, so ofte sie ein Scheer messer in unsrer Hand würden. Ja, er thut noch mehr: er mischet etwas herbes in unsern Freudenkelch, damit wir uns nicht so leichte berauschen sollen. Das thust du, o Vater! und wir schreien über Gewalt? Argwöhnisches Herz! wann wirst du doch aufhören, der allgütigen Vorsicht Regeln vorzuschreiben! Wie lange foderst du noch unmögliche Dinge: heitere Erdluft ohne Stürme und Wintertage ohne Nacht! O! kenntest du dei- nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft würdest du zum Lachen sprechen: du bist toll! und zur Freude was machest du? Von allen unsern Stunden an jenem Tage Rechenschaft zu geben, wird eine erschreckliche Arbeit seyn: lustige Stunden aber sind die gefährlichsten, und machen sich mehrentheils am Ende mit Thränen bezahlt. Ein Beweis daß wir für diese Welt nicht blos bestimmt sind!
So danke ich dir denn, Allgütigster! nicht allein für die aufgeklärte Minuten des verflossenen Tages, sondern auch für die trübe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa- ren. Niemals soll mir deine Gnade verdächtig werden, wenn ich gleich durch Thränen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne über meinen jezigen Kummer hinaus sehe ich mein wahres Va- terland den Himmel, wo der Wechsel von Freude und Leid weder nöthig noch möglich ist. Da will ich nach ausgeweintem mir gütigst bestimmtem Maaß von Thränen, mich ewig freuen, und dir, Herr Jesu! meine Freude verdanken!
Der
Der 10te Januar.
muß erſt einen verklaͤrten Koͤrper, oder einen Geiſt haben, der nicht ſo ſehr von groben Sinnen abhaͤngt; ich muß erſt beßre Ge- ſellſchafter und ein von Vorwuͤrfen freieres Gewiſſen haben, ehe ich beſtaͤndigen Sonnenſchein erwarten darf. Suͤnde und Freude leben in der groͤßten Antlpathie.
Wie murren denn die Leute im Leben alſo? ein jeglicher murre wider ſeine Suͤnde! Gerne vergoͤnnte uns Gott Freuden und Entzuͤcken: aber er verſagt ſie uns Unmuͤndigen, ſo ofte ſie ein Scheer meſſer in unſrer Hand wuͤrden. Ja, er thut noch mehr: er miſchet etwas herbes in unſern Freudenkelch, damit wir uns nicht ſo leichte berauſchen ſollen. Das thuſt du, o Vater! und wir ſchreien uͤber Gewalt? Argwoͤhniſches Herz! wann wirſt du doch aufhoͤren, der allguͤtigen Vorſicht Regeln vorzuſchreiben! Wie lange foderſt du noch unmoͤgliche Dinge: heitere Erdluft ohne Stuͤrme und Wintertage ohne Nacht! O! kennteſt du dei- nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft wuͤrdeſt du zum Lachen ſprechen: du biſt toll! und zur Freude was macheſt du? Von allen unſern Stunden an jenem Tage Rechenſchaft zu geben, wird eine erſchreckliche Arbeit ſeyn: luſtige Stunden aber ſind die gefaͤhrlichſten, und machen ſich mehrentheils am Ende mit Thraͤnen bezahlt. Ein Beweis daß wir fuͤr dieſe Welt nicht blos beſtimmt ſind!
So danke ich dir denn, Allguͤtigſter! nicht allein fuͤr die aufgeklaͤrte Minuten des verfloſſenen Tages, ſondern auch fuͤr die truͤbe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa- ren. Niemals ſoll mir deine Gnade verdaͤchtig werden, wenn ich gleich durch Thraͤnen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne uͤber meinen jezigen Kummer hinaus ſehe ich mein wahres Va- terland den Himmel, wo der Wechſel von Freude und Leid weder noͤthig noch moͤglich iſt. Da will ich nach ausgeweintem mir guͤtigſt beſtimmtem Maaß von Thraͤnen, mich ewig freuen, und dir, Herr Jeſu! meine Freude verdanken!
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[22[52]/0059]
Der 10te Januar.
muß erſt einen verklaͤrten Koͤrper, oder einen Geiſt haben, der
nicht ſo ſehr von groben Sinnen abhaͤngt; ich muß erſt beßre Ge-
ſellſchafter und ein von Vorwuͤrfen freieres Gewiſſen haben, ehe
ich beſtaͤndigen Sonnenſchein erwarten darf. Suͤnde und Freude
leben in der groͤßten Antlpathie.
Wie murren denn die Leute im Leben alſo? ein jeglicher
murre wider ſeine Suͤnde! Gerne vergoͤnnte uns Gott Freuden
und Entzuͤcken: aber er verſagt ſie uns Unmuͤndigen, ſo ofte ſie ein
Scheer meſſer in unſrer Hand wuͤrden. Ja, er thut noch mehr:
er miſchet etwas herbes in unſern Freudenkelch, damit wir uns
nicht ſo leichte berauſchen ſollen. Das thuſt du, o Vater! und
wir ſchreien uͤber Gewalt? Argwoͤhniſches Herz! wann wirſt du
doch aufhoͤren, der allguͤtigen Vorſicht Regeln vorzuſchreiben!
Wie lange foderſt du noch unmoͤgliche Dinge: heitere Erdluft
ohne Stuͤrme und Wintertage ohne Nacht! O! kennteſt du dei-
nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft wuͤrdeſt du
zum Lachen ſprechen: du biſt toll! und zur Freude was macheſt
du? Von allen unſern Stunden an jenem Tage Rechenſchaft zu
geben, wird eine erſchreckliche Arbeit ſeyn: luſtige Stunden aber
ſind die gefaͤhrlichſten, und machen ſich mehrentheils am Ende
mit Thraͤnen bezahlt. Ein Beweis daß wir fuͤr dieſe Welt nicht
blos beſtimmt ſind!
So danke ich dir denn, Allguͤtigſter! nicht allein fuͤr die
aufgeklaͤrte Minuten des verfloſſenen Tages, ſondern auch fuͤr die
truͤbe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa-
ren. Niemals ſoll mir deine Gnade verdaͤchtig werden, wenn ich
gleich durch Thraͤnen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne
uͤber meinen jezigen Kummer hinaus ſehe ich mein wahres Va-
terland den Himmel, wo der Wechſel von Freude und Leid weder
noͤthig noch moͤglich iſt. Da will ich nach ausgeweintem mir
guͤtigſt beſtimmtem Maaß von Thraͤnen, mich ewig freuen, und
dir, Herr Jeſu! meine Freude verdanken!
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 22[52]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/59>, abgerufen am 27.11.2024.
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