Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 9te Januar. zudrückt? Werden meine Erben verstolen lächeln, oder in derEinsamkeit fasten und weinen? -- Gott! wie klein werden wir, wenn wir diesen und ähnlichen Gedanken nachhängen! Und laß mich nur recht klein vor dir werden, auf daß du mich erhöhen und zu Ehren annehmen könnest. Betrachtungen, welche mich zum Gebet drängen, sind ein heilsames Geschenk von dir, wenn gleich das leichtsinnige Herz sie als düster und melancholisch ver- schreien will. Und so setze ich denn noch eine ernsthafte Frage hinzu: Wann, in welchem Jahre werde ich sterben? Dis ist Nein! Vater, dir überlasse ich mich willig. Meine Zeit Der
Der 9te Januar. zudruͤckt? Werden meine Erben verſtolen laͤcheln, oder in derEinſamkeit faſten und weinen? — Gott! wie klein werden wir, wenn wir dieſen und aͤhnlichen Gedanken nachhaͤngen! Und laß mich nur recht klein vor dir werden, auf daß du mich erhoͤhen und zu Ehren annehmen koͤnneſt. Betrachtungen, welche mich zum Gebet draͤngen, ſind ein heilſames Geſchenk von dir, wenn gleich das leichtſinnige Herz ſie als duͤſter und melancholiſch ver- ſchreien will. Und ſo ſetze ich denn noch eine ernſthafte Frage hinzu: Wann, in welchem Jahre werde ich ſterben? Dis iſt Nein! Vater, dir uͤberlaſſe ich mich willig. Meine Zeit Der
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Der 9te Januar.
zudruͤckt? Werden meine Erben verſtolen laͤcheln, oder in der
Einſamkeit faſten und weinen? — Gott! wie klein werden wir,
wenn wir dieſen und aͤhnlichen Gedanken nachhaͤngen! Und laß
mich nur recht klein vor dir werden, auf daß du mich erhoͤhen
und zu Ehren annehmen koͤnneſt. Betrachtungen, welche mich
zum Gebet draͤngen, ſind ein heilſames Geſchenk von dir, wenn
gleich das leichtſinnige Herz ſie als duͤſter und melancholiſch ver-
ſchreien will. Und ſo ſetze ich denn noch eine ernſthafte Frage hinzu:
Wann, in welchem Jahre werde ich ſterben? Dis iſt
das ungewiſſeſte, und kaum Sterbenden beantwortlich; Geſunde
koͤnnen hier nicht einmal muthmaſſen. Es iſt ein Majeſtaͤtsrecht
des Koͤnigs aller Koͤnige, ſeinen Unterthanen Ort, Beſchaffen-
heit und Zeit ihres Todes anzuweiſen; und Hochverrath iſt es,
wenn ein Selbſtmoͤrder ſich dieſer Macht anmaſſen will. Aber
auch goͤttliche Wohlthat iſts, in beſtaͤndiger Erwartung des To-
des leben zu muͤſſen. Wuͤßten die Menſchen ihren Sterbetag
vorher, ſo wuͤrden die meiſten ſicher fortſuͤndigen, bis auf weni-
ge Monate oder Tage, welche ſie Gott verwilligten, weil ſie
nun muͤßten. Selbſt manche Fromme wuͤrden lauer ſeyn. Solte
ich demnach ſcheel daruͤber ſehen, daß Gott ſo guͤtig iſt, und
mich zur noͤthigen Wachſamkeit uͤber meine Seele ſo liebreich er-
muntert?
Nein! Vater, dir uͤberlaſſe ich mich willig. Meine Zeit
und mein Tod ſollen allein von deiner Huld und Weisheit abhan-
gen. Fuͤhre mich noch ſo wunderlich, fuͤhre mich nur ſelig! Und
das wirſt du um Jeſu willen thun. Mein Ende ſey, wo, wie
und wann es wolle: es wird mir doch der Anfang der frohen
Ewigkeit ſeyn. Ich hoffe jetzt ſanft in meinem Bette zu ruhen,
aber noch ſanfter wird ſichs nach treu vollbrachter Arbeit im Gra-
be ruhen laſſen. Dazu, Herr Jeſu! gib mir deine Gnade, und
mache mich taͤglich geneigter und faͤhiger, in Ewigkeit dir zu
lobſingen!
Der
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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