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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 8te Januar.
So floß von meinen Lebenstagen
Denn abermal ein Tag dahin!
Ach! kann ichs jetzt vor Gott auch sagen,
Daß ich heut frömmer worden bin?
Und wer den Pfad der Tugend geht;
Wird schwindelnd, wenn er stille steht!


Gemeiniglich prüfen wir uns am Abend nur, ob wir den ver-
gangenen Tag über vorsetzliche Sünden begangen haben,
und sind vergnügt, wenn wir uns keine Vorwürfe darüber zu
machen wissen. Allein, fordert denn das Christenthum nichts
mehr von uns, als nur vertheidigungsweise gegen das Laster zu
handeln? Sollen wir nicht auch durch die Liebe thätig seyn? Zu
jenem wären Einsiedeleien, versperrte Klöster, oder gewaltsam[e]
Mißhandlung unsers Körpers vieleicht ein dienliches Mittel;
aber zur thätigen Liebe gehöret weit mehr, gehöret eine freie und
Gott ergebene Seele. Bei der Pflicht, täglich im Guten
zu wachsen
darf man nicht immer im angewöhnten Lehnstul
Mittagsruhe halten: sondern man muß helfen, streiten und sie-
gen, so bald uns die Tugend aufbietet.

In der Geisterwelt ist alles in beständiger Bewegung; Ein-
sichten wachsen und Fertigkeiten nehmen zu. Es ist also unmög-
lich, in der Frömmigkeit stille zu stehen. Hier stille stehen heißt
rückwärts gehen und verderben. So kam Lots Weib um, als
sie ihren Gang nicht fortsetzte, um dem verzehrenden Feuer des
Herrn zu entrinnen. Auch Gottlose können nicht stille stehen,
entweder sie schreiten der Hölle entgegen, oder kehren allmählich
von ihrem bösen Wege zurück. Meine Prüfung muß demnach
jetzt weiter gehen; sie muß meinen immer fortschreitenden Ge-
sinnungen sorgfältig nachspüren.

Die
Tiedens Abendand. 1. Th. B


Der 8te Januar.
So floß von meinen Lebenstagen
Denn abermal ein Tag dahin!
Ach! kann ichs jetzt vor Gott auch ſagen,
Daß ich heut froͤmmer worden bin?
Und wer den Pfad der Tugend geht;
Wird ſchwindelnd, wenn er ſtille ſteht!


Gemeiniglich pruͤfen wir uns am Abend nur, ob wir den ver-
gangenen Tag uͤber vorſetzliche Suͤnden begangen haben,
und ſind vergnuͤgt, wenn wir uns keine Vorwuͤrfe daruͤber zu
machen wiſſen. Allein, fordert denn das Chriſtenthum nichts
mehr von uns, als nur vertheidigungsweiſe gegen das Laſter zu
handeln? Sollen wir nicht auch durch die Liebe thaͤtig ſeyn? Zu
jenem waͤren Einſiedeleien, verſperrte Kloͤſter, oder gewaltſam[e]
Mißhandlung unſers Koͤrpers vieleicht ein dienliches Mittel;
aber zur thaͤtigen Liebe gehoͤret weit mehr, gehoͤret eine freie und
Gott ergebene Seele. Bei der Pflicht, taͤglich im Guten
zu wachſen
darf man nicht immer im angewoͤhnten Lehnſtul
Mittagsruhe halten: ſondern man muß helfen, ſtreiten und ſie-
gen, ſo bald uns die Tugend aufbietet.

In der Geiſterwelt iſt alles in beſtaͤndiger Bewegung; Ein-
ſichten wachſen und Fertigkeiten nehmen zu. Es iſt alſo unmoͤg-
lich, in der Froͤmmigkeit ſtille zu ſtehen. Hier ſtille ſtehen heißt
ruͤckwaͤrts gehen und verderben. So kam Lots Weib um, als
ſie ihren Gang nicht fortſetzte, um dem verzehrenden Feuer des
Herrn zu entrinnen. Auch Gottloſe koͤnnen nicht ſtille ſtehen,
entweder ſie ſchreiten der Hoͤlle entgegen, oder kehren allmaͤhlich
von ihrem boͤſen Wege zuruͤck. Meine Pruͤfung muß demnach
jetzt weiter gehen; ſie muß meinen immer fortſchreitenden Ge-
ſinnungen ſorgfaͤltig nachſpuͤren.

Die
Tiedens Abendand. 1. Th. B
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[17[47]/0054] Der 8te Januar. So floß von meinen Lebenstagen Denn abermal ein Tag dahin! Ach! kann ichs jetzt vor Gott auch ſagen, Daß ich heut froͤmmer worden bin? Und wer den Pfad der Tugend geht; Wird ſchwindelnd, wenn er ſtille ſteht! Gemeiniglich pruͤfen wir uns am Abend nur, ob wir den ver- gangenen Tag uͤber vorſetzliche Suͤnden begangen haben, und ſind vergnuͤgt, wenn wir uns keine Vorwuͤrfe daruͤber zu machen wiſſen. Allein, fordert denn das Chriſtenthum nichts mehr von uns, als nur vertheidigungsweiſe gegen das Laſter zu handeln? Sollen wir nicht auch durch die Liebe thaͤtig ſeyn? Zu jenem waͤren Einſiedeleien, verſperrte Kloͤſter, oder gewaltſame Mißhandlung unſers Koͤrpers vieleicht ein dienliches Mittel; aber zur thaͤtigen Liebe gehoͤret weit mehr, gehoͤret eine freie und Gott ergebene Seele. Bei der Pflicht, taͤglich im Guten zu wachſen darf man nicht immer im angewoͤhnten Lehnſtul Mittagsruhe halten: ſondern man muß helfen, ſtreiten und ſie- gen, ſo bald uns die Tugend aufbietet. In der Geiſterwelt iſt alles in beſtaͤndiger Bewegung; Ein- ſichten wachſen und Fertigkeiten nehmen zu. Es iſt alſo unmoͤg- lich, in der Froͤmmigkeit ſtille zu ſtehen. Hier ſtille ſtehen heißt ruͤckwaͤrts gehen und verderben. So kam Lots Weib um, als ſie ihren Gang nicht fortſetzte, um dem verzehrenden Feuer des Herrn zu entrinnen. Auch Gottloſe koͤnnen nicht ſtille ſtehen, entweder ſie ſchreiten der Hoͤlle entgegen, oder kehren allmaͤhlich von ihrem boͤſen Wege zuruͤck. Meine Pruͤfung muß demnach jetzt weiter gehen; ſie muß meinen immer fortſchreitenden Ge- ſinnungen ſorgfaͤltig nachſpuͤren. Die Tiedens Abendand. 1. Th. B

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 17[47]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/54>, abgerufen am 27.11.2024.