Bei dieser zunehmenden Stille um mich her, will ich die Stimme meines Gewissens hören, dessen Lispeln durch das Ge- räusch des Tages so oftmals übertäubet ward! Kein Thor zer- streuet mich jetzt, kein Verführer suchet mich zu überraschen, kein Treiber dränget mich jetzt: ich bin mir selbst übrig und stehe al- lein vor dir, mein Gott! -- So werde ich verlassen von der reizenden Welt und der lächelnden Sünde, dereinst vor dir im Gerichte allein stehen, woferne nicht Jesus alsdann zu meiner Seite tritt! -- Rede denn laut, du Stimme des Himmels! Gewissen, das mir Gott gab! rede laut: ich will hören.
Wer bin ich? -- Vielleicht das Ungeheuer nicht, wofür mich meine Feinde halten: aber auch gewiß der Liebenswürdige nicht, wofür mich einige wenige meiner Freunde und sonderlich ich mich selber halte! Jedoch, was habe ich jetzt mit dem Urtheil der Menschen zu schaffen: sage mir, Gewissen! bin ich Gottes Kind? Spricht Jesus: dir sind deine Sünden vergeben? Freuen sich Engel über die tägliche Erneuerung meiner Busse und über meine wachsende Tugend? Wie viele sind ihrer unter den selig Verstorbnen, welche mich dorten rühmen? Oder giebt es schon Stimmen in der Hölle, welche meinen Namen nennen? Wenn ich diese Nacht stürbe, (und dazu bin ich doch wol alt genug?) würden morgen viele über die Nachricht davon weinen oder lose Anmerkungen machen? Bin ich -- Genung, ich bin ein Sün- der. Ja, Vater! hier in der Einsamkeit fühle ich es jetzt dop- pelt, daß ich nicht werth bin, dein Kind zu heissen. Ich danke dir aber auch, daß ich dieses Gefühl noch habe. Bekentniß der Sünden ist dir ein angenehmes Opfer, und das bringe ich dir hiemit, verschmäh es nicht! Die Ruhe, welche du mir diese Nacht schenken wirst, soll mir ein Bewegunsgrund mehr seyn, bei allem Getümmel des Tages mein Gewissen zu hören und dir zu leben!
Der
Der 6te Januar.
Bei dieſer zunehmenden Stille um mich her, will ich die Stimme meines Gewiſſens hoͤren, deſſen Lispeln durch das Ge- raͤuſch des Tages ſo oftmals uͤbertaͤubet ward! Kein Thor zer- ſtreuet mich jetzt, kein Verfuͤhrer ſuchet mich zu uͤberraſchen, kein Treiber draͤnget mich jetzt: ich bin mir ſelbſt uͤbrig und ſtehe al- lein vor dir, mein Gott! — So werde ich verlaſſen von der reizenden Welt und der laͤchelnden Suͤnde, dereinſt vor dir im Gerichte allein ſtehen, woferne nicht Jeſus alsdann zu meiner Seite tritt! — Rede denn laut, du Stimme des Himmels! Gewiſſen, das mir Gott gab! rede laut: ich will hoͤren.
Wer bin ich? — Vielleicht das Ungeheuer nicht, wofuͤr mich meine Feinde halten: aber auch gewiß der Liebenswuͤrdige nicht, wofuͤr mich einige wenige meiner Freunde und ſonderlich ich mich ſelber halte! Jedoch, was habe ich jetzt mit dem Urtheil der Menſchen zu ſchaffen: ſage mir, Gewiſſen! bin ich Gottes Kind? Spricht Jeſus: dir ſind deine Suͤnden vergeben? Freuen ſich Engel uͤber die taͤgliche Erneuerung meiner Buſſe und uͤber meine wachſende Tugend? Wie viele ſind ihrer unter den ſelig Verſtorbnen, welche mich dorten ruͤhmen? Oder giebt es ſchon Stimmen in der Hoͤlle, welche meinen Namen nennen? Wenn ich dieſe Nacht ſtuͤrbe, (und dazu bin ich doch wol alt genug?) wuͤrden morgen viele uͤber die Nachricht davon weinen oder loſe Anmerkungen machen? Bin ich — Genung, ich bin ein Suͤn- der. Ja, Vater! hier in der Einſamkeit fuͤhle ich es jetzt dop- pelt, daß ich nicht werth bin, dein Kind zu heiſſen. Ich danke dir aber auch, daß ich dieſes Gefuͤhl noch habe. Bekentniß der Suͤnden iſt dir ein angenehmes Opfer, und das bringe ich dir hiemit, verſchmaͤh es nicht! Die Ruhe, welche du mir dieſe Nacht ſchenken wirſt, ſoll mir ein Bewegunsgrund mehr ſeyn, bei allem Getuͤmmel des Tages mein Gewiſſen zu hoͤren und dir zu leben!
Der
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[14[44]/0051]
Der 6te Januar.
Bei dieſer zunehmenden Stille um mich her, will ich die
Stimme meines Gewiſſens hoͤren, deſſen Lispeln durch das Ge-
raͤuſch des Tages ſo oftmals uͤbertaͤubet ward! Kein Thor zer-
ſtreuet mich jetzt, kein Verfuͤhrer ſuchet mich zu uͤberraſchen, kein
Treiber draͤnget mich jetzt: ich bin mir ſelbſt uͤbrig und ſtehe al-
lein vor dir, mein Gott! — So werde ich verlaſſen von der
reizenden Welt und der laͤchelnden Suͤnde, dereinſt vor dir im
Gerichte allein ſtehen, woferne nicht Jeſus alsdann zu meiner
Seite tritt! — Rede denn laut, du Stimme des Himmels!
Gewiſſen, das mir Gott gab! rede laut: ich will hoͤren.
Wer bin ich? — Vielleicht das Ungeheuer nicht, wofuͤr
mich meine Feinde halten: aber auch gewiß der Liebenswuͤrdige
nicht, wofuͤr mich einige wenige meiner Freunde und ſonderlich
ich mich ſelber halte! Jedoch, was habe ich jetzt mit dem Urtheil
der Menſchen zu ſchaffen: ſage mir, Gewiſſen! bin ich Gottes
Kind? Spricht Jeſus: dir ſind deine Suͤnden vergeben? Freuen
ſich Engel uͤber die taͤgliche Erneuerung meiner Buſſe und uͤber
meine wachſende Tugend? Wie viele ſind ihrer unter den ſelig
Verſtorbnen, welche mich dorten ruͤhmen? Oder giebt es ſchon
Stimmen in der Hoͤlle, welche meinen Namen nennen? Wenn
ich dieſe Nacht ſtuͤrbe, (und dazu bin ich doch wol alt genug?)
wuͤrden morgen viele uͤber die Nachricht davon weinen oder loſe
Anmerkungen machen? Bin ich — Genung, ich bin ein Suͤn-
der. Ja, Vater! hier in der Einſamkeit fuͤhle ich es jetzt dop-
pelt, daß ich nicht werth bin, dein Kind zu heiſſen. Ich danke
dir aber auch, daß ich dieſes Gefuͤhl noch habe. Bekentniß der
Suͤnden iſt dir ein angenehmes Opfer, und das bringe ich dir
hiemit, verſchmaͤh es nicht! Die Ruhe, welche du mir dieſe
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bei allem Getuͤmmel des Tages mein Gewiſſen zu hoͤren und dir
zu leben!
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 14[44]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/51>, abgerufen am 27.11.2024.
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