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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 5te Januar.
gen verstehen und gnädig erhören werdest; wirst du, wenn ich
alsdenn nicht mehr reden kan, meinen letzten Gedanken: Vater!
in deine Hände befehle ich meinen Geist! wirst du auch den wie ein
lautes Gebet von deinem sterbenden Kinde annehmen: o! so kanst
du, allwissender und heiliger Gott! auch jetzt bei meinen bösen
und flatterhaften Gedanken unmöglich gleichgültig seyn. Nein!
das kanst du nicht; denn vor dir ist alles entweder Belohnens
oder Bestrafens werth. Du schlummerst bei keiner Handlung,
bei keiner Jdee deiner vernünftigen und freien Geschöpfe.

So erschrecke ich denn über mein heutiges Gedankenregister!
Vor Menschen müßte ich mich schämen, wenn sie alle meine heut
gehabte Vorstellungen wüßten. Wie kindisch, wie gierig, wie
neidisch, eigenliebig oder gar boshaft waren nicht viele derselben!
Und wenn sie meine Seele nunmehro im Traume fortsetzte: wäre
ich alsdann nicht schuld an meinen bösen Träumen? -- Ach!
Richter der Gedanken, erbarm dich deines leichtsinnigen Kindes,
das sich jetzt noch vor dir demütiget, und seine Missethat nicht
verheelet! Ich will, (stärke du meinen Vorsatz!) ich will künftig
meine Gedanken, diese Kinder meiner Einbildungskraft, besser
in Zucht nehmen, und ihnen nicht ihren Muthwillen verstatten.
Ich will den Tod meines Erlösers und seine Ursachen fruchtbar
bedenken, und jeden mir anwandelnden ungöttlichen Gedanken
mit Gebet von mir hinwegscheuchen. Ich will bedenken, daß an
jenem Tage alle unbereuete böse Gedanken, wie ein Gebürge wi-
der mich stehen und vom Zorne Gottes schrecklich wiederhallen
würden, wenn sie hier nicht schon durch Reue und Glauben ab-
getragen und vernichtet werden!

Nun, Vater! du kennest die Falten meines Herzens, du
wägest auch die Worte, die jetzt auf meiner Zunge sind. Meine
letzte Gedanken an diesem Tage sollen wenigstens dir angenehm
seyn: Ich gedenke an meine Sünde, aber auch an den, der sie
sämtlich getilget hat. Gedenk du auch an seinen Versöhnungstod,
und um seinetwillen sey mir hier und dorten gnädig! Amen.

Der

Der 5te Januar.
gen verſtehen und gnaͤdig erhoͤren werdeſt; wirſt du, wenn ich
alsdenn nicht mehr reden kan, meinen letzten Gedanken: Vater!
in deine Haͤnde befehle ich meinen Geiſt! wirſt du auch den wie ein
lautes Gebet von deinem ſterbenden Kinde annehmen: o! ſo kanſt
du, allwiſſender und heiliger Gott! auch jetzt bei meinen boͤſen
und flatterhaften Gedanken unmoͤglich gleichguͤltig ſeyn. Nein!
das kanſt du nicht; denn vor dir iſt alles entweder Belohnens
oder Beſtrafens werth. Du ſchlummerſt bei keiner Handlung,
bei keiner Jdee deiner vernuͤnftigen und freien Geſchoͤpfe.

So erſchrecke ich denn uͤber mein heutiges Gedankenregiſter!
Vor Menſchen muͤßte ich mich ſchaͤmen, wenn ſie alle meine heut
gehabte Vorſtellungen wuͤßten. Wie kindiſch, wie gierig, wie
neidiſch, eigenliebig oder gar boshaft waren nicht viele derſelben!
Und wenn ſie meine Seele nunmehro im Traume fortſetzte: waͤre
ich alsdann nicht ſchuld an meinen boͤſen Traͤumen? — Ach!
Richter der Gedanken, erbarm dich deines leichtſinnigen Kindes,
das ſich jetzt noch vor dir demuͤtiget, und ſeine Miſſethat nicht
verheelet! Ich will, (ſtaͤrke du meinen Vorſatz!) ich will kuͤnftig
meine Gedanken, dieſe Kinder meiner Einbildungskraft, beſſer
in Zucht nehmen, und ihnen nicht ihren Muthwillen verſtatten.
Ich will den Tod meines Erloͤſers und ſeine Urſachen fruchtbar
bedenken, und jeden mir anwandelnden ungoͤttlichen Gedanken
mit Gebet von mir hinwegſcheuchen. Ich will bedenken, daß an
jenem Tage alle unbereuete boͤſe Gedanken, wie ein Gebuͤrge wi-
der mich ſtehen und vom Zorne Gottes ſchrecklich wiederhallen
wuͤrden, wenn ſie hier nicht ſchon durch Reue und Glauben ab-
getragen und vernichtet werden!

Nun, Vater! du kenneſt die Falten meines Herzens, du
waͤgeſt auch die Worte, die jetzt auf meiner Zunge ſind. Meine
letzte Gedanken an dieſem Tage ſollen wenigſtens dir angenehm
ſeyn: Ich gedenke an meine Suͤnde, aber auch an den, der ſie
ſaͤmtlich getilget hat. Gedenk du auch an ſeinen Verſoͤhnungstod,
und um ſeinetwillen ſey mir hier und dorten gnaͤdig! Amen.

Der
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[12[42]/0049] Der 5te Januar. gen verſtehen und gnaͤdig erhoͤren werdeſt; wirſt du, wenn ich alsdenn nicht mehr reden kan, meinen letzten Gedanken: Vater! in deine Haͤnde befehle ich meinen Geiſt! wirſt du auch den wie ein lautes Gebet von deinem ſterbenden Kinde annehmen: o! ſo kanſt du, allwiſſender und heiliger Gott! auch jetzt bei meinen boͤſen und flatterhaften Gedanken unmoͤglich gleichguͤltig ſeyn. Nein! das kanſt du nicht; denn vor dir iſt alles entweder Belohnens oder Beſtrafens werth. Du ſchlummerſt bei keiner Handlung, bei keiner Jdee deiner vernuͤnftigen und freien Geſchoͤpfe. So erſchrecke ich denn uͤber mein heutiges Gedankenregiſter! Vor Menſchen muͤßte ich mich ſchaͤmen, wenn ſie alle meine heut gehabte Vorſtellungen wuͤßten. Wie kindiſch, wie gierig, wie neidiſch, eigenliebig oder gar boshaft waren nicht viele derſelben! Und wenn ſie meine Seele nunmehro im Traume fortſetzte: waͤre ich alsdann nicht ſchuld an meinen boͤſen Traͤumen? — Ach! Richter der Gedanken, erbarm dich deines leichtſinnigen Kindes, das ſich jetzt noch vor dir demuͤtiget, und ſeine Miſſethat nicht verheelet! Ich will, (ſtaͤrke du meinen Vorſatz!) ich will kuͤnftig meine Gedanken, dieſe Kinder meiner Einbildungskraft, beſſer in Zucht nehmen, und ihnen nicht ihren Muthwillen verſtatten. Ich will den Tod meines Erloͤſers und ſeine Urſachen fruchtbar bedenken, und jeden mir anwandelnden ungoͤttlichen Gedanken mit Gebet von mir hinwegſcheuchen. Ich will bedenken, daß an jenem Tage alle unbereuete boͤſe Gedanken, wie ein Gebuͤrge wi- der mich ſtehen und vom Zorne Gottes ſchrecklich wiederhallen wuͤrden, wenn ſie hier nicht ſchon durch Reue und Glauben ab- getragen und vernichtet werden! Nun, Vater! du kenneſt die Falten meines Herzens, du waͤgeſt auch die Worte, die jetzt auf meiner Zunge ſind. Meine letzte Gedanken an dieſem Tage ſollen wenigſtens dir angenehm ſeyn: Ich gedenke an meine Suͤnde, aber auch an den, der ſie ſaͤmtlich getilget hat. Gedenk du auch an ſeinen Verſoͤhnungstod, und um ſeinetwillen ſey mir hier und dorten gnaͤdig! Amen. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 12[42]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/49>, abgerufen am 27.11.2024.