Erbarm dich Herr! du kennst mein Herz; Geneigt zu Eitelkeiten, Läßt sichs durch Freuden und durch Schmerz Oft auf den Irrweg leiten!
Wünsche an mein Herz sind mir gewiß heilsamer, als die zuckersüßen Wünsche meiner schmeichlerischen Freunde. Ueberrechne ich nur obenhin, wie viele Thorheiten binnen Jahres- frist in meinem Herzen geboren sind, von welchen nicht wenige sorgfältig von mir geheget wurden, und zu einem ziemlichen Alter gelangten: so erstaune ich über meinen Leichtsinn und über die verschonende Huld meines Gottes. Sähe ich jetzt mit untrügli- chem Auge, wie ich am Tage des Gerichts sehen werde, alle mei- ne Fehltritte des vorigen Jahres, auch diejenigen, zu welchen mir nur Kraft und Gelegenheit fehlte, so würde ich mich vor mir selber fürchten. O! welch ein verrätherischer Freund wohnet in meiner Brust, und begleitet mich durch alle Auftritte des Lebens! In dieser Stunde macht er mit Gott einen Bund, und in der folgenden tritt er seine Gebote mit Füssen! Gestern erst übergab ich mein Herz aufs neue an Gott, und heute finde ich es schon neuer Untugenden schuldig. Denn gleichwie jetzt Gärten und Fluren erstarret da liegen, so ist auch mein Gemüth kalt und zum Guten erstorben. Wollen habe ich wol, aber Vollbringen das Gute finde ich nicht in mir! Wie schrecklich werde ich demnach nicht meine Sündenschuld dieses Jahr hindurch vermehren!
Nein! das wolle Gott nicht! Bessern will ich mich, mehr über mich wachen und eifriger in die Fußtapfen meines Erlösers treten. Jetzt will ich Wünsche an mein Herz thun, und mich öfters das Jahr über fragen: ob es blos bei Wünschen geblieben sey. Verführtes Herz! dir wünsche ich in diesem Jahre mehr
Abscheu
A 3
Der 2te Januar.
Erbarm dich Herr! du kennſt mein Herz; Geneigt zu Eitelkeiten, Laͤßt ſichs durch Freuden und durch Schmerz Oft auf den Irrweg leiten!
Wuͤnſche an mein Herz ſind mir gewiß heilſamer, als die zuckerſuͤßen Wuͤnſche meiner ſchmeichleriſchen Freunde. Ueberrechne ich nur obenhin, wie viele Thorheiten binnen Jahres- friſt in meinem Herzen geboren ſind, von welchen nicht wenige ſorgfaͤltig von mir geheget wurden, und zu einem ziemlichen Alter gelangten: ſo erſtaune ich uͤber meinen Leichtſinn und uͤber die verſchonende Huld meines Gottes. Saͤhe ich jetzt mit untruͤgli- chem Auge, wie ich am Tage des Gerichts ſehen werde, alle mei- ne Fehltritte des vorigen Jahres, auch diejenigen, zu welchen mir nur Kraft und Gelegenheit fehlte, ſo wuͤrde ich mich vor mir ſelber fuͤrchten. O! welch ein verraͤtheriſcher Freund wohnet in meiner Bruſt, und begleitet mich durch alle Auftritte des Lebens! In dieſer Stunde macht er mit Gott einen Bund, und in der folgenden tritt er ſeine Gebote mit Fuͤſſen! Geſtern erſt uͤbergab ich mein Herz aufs neue an Gott, und heute finde ich es ſchon neuer Untugenden ſchuldig. Denn gleichwie jetzt Gaͤrten und Fluren erſtarret da liegen, ſo iſt auch mein Gemuͤth kalt und zum Guten erſtorben. Wollen habe ich wol, aber Vollbringen das Gute finde ich nicht in mir! Wie ſchrecklich werde ich demnach nicht meine Suͤndenſchuld dieſes Jahr hindurch vermehren!
Nein! das wolle Gott nicht! Beſſern will ich mich, mehr uͤber mich wachen und eifriger in die Fußtapfen meines Erloͤſers treten. Jetzt will ich Wuͤnſche an mein Herz thun, und mich oͤfters das Jahr uͤber fragen: ob es blos bei Wuͤnſchen geblieben ſey. Verfuͤhrtes Herz! dir wuͤnſche ich in dieſem Jahre mehr
Abſcheu
A 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0042"n="5[35]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>Der 2<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">E</hi>rbarm dich Herr! du kennſt mein Herz;</l><lb/><l>Geneigt zu Eitelkeiten,</l><lb/><l>Laͤßt ſichs durch Freuden und durch Schmerz</l><lb/><l>Oft auf den Irrweg leiten!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi><hirendition="#fr">uͤnſche an mein Herz</hi>ſind mir gewiß heilſamer, als<lb/>
die zuckerſuͤßen Wuͤnſche meiner ſchmeichleriſchen Freunde.<lb/>
Ueberrechne ich nur obenhin, wie viele Thorheiten binnen Jahres-<lb/>
friſt in meinem Herzen geboren ſind, von welchen nicht wenige<lb/>ſorgfaͤltig von mir geheget wurden, und zu einem ziemlichen Alter<lb/>
gelangten: ſo erſtaune ich uͤber meinen Leichtſinn und uͤber die<lb/>
verſchonende Huld meines Gottes. Saͤhe ich jetzt mit untruͤgli-<lb/>
chem Auge, wie ich am Tage des Gerichts ſehen werde, alle mei-<lb/>
ne Fehltritte des vorigen Jahres, auch diejenigen, zu welchen<lb/>
mir nur Kraft und Gelegenheit fehlte, ſo wuͤrde ich mich vor mir<lb/>ſelber fuͤrchten. O! welch ein verraͤtheriſcher Freund wohnet in<lb/>
meiner Bruſt, und begleitet mich durch alle Auftritte des Lebens!<lb/>
In dieſer Stunde macht er mit Gott einen Bund, und in der<lb/>
folgenden tritt er ſeine Gebote mit Fuͤſſen! Geſtern erſt uͤbergab<lb/>
ich mein Herz aufs neue an Gott, und heute finde ich es ſchon<lb/>
neuer Untugenden ſchuldig. Denn gleichwie jetzt Gaͤrten und<lb/>
Fluren erſtarret da liegen, ſo iſt auch mein Gemuͤth kalt und zum<lb/>
Guten erſtorben. Wollen habe ich wol, aber Vollbringen das<lb/>
Gute finde ich nicht in mir! Wie ſchrecklich werde ich demnach<lb/>
nicht meine Suͤndenſchuld dieſes Jahr hindurch vermehren!</p><lb/><p>Nein! das wolle Gott nicht! Beſſern will ich mich, mehr<lb/>
uͤber mich wachen und eifriger in die Fußtapfen meines Erloͤſers<lb/>
treten. Jetzt will ich Wuͤnſche an mein Herz thun, und mich<lb/>
oͤfters das Jahr uͤber fragen: ob es blos bei Wuͤnſchen geblieben<lb/>ſey. Verfuͤhrtes Herz! dir wuͤnſche ich in dieſem Jahre mehr<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Abſcheu</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[5[35]/0042]
Der 2te Januar.
Erbarm dich Herr! du kennſt mein Herz;
Geneigt zu Eitelkeiten,
Laͤßt ſichs durch Freuden und durch Schmerz
Oft auf den Irrweg leiten!
Wuͤnſche an mein Herz ſind mir gewiß heilſamer, als
die zuckerſuͤßen Wuͤnſche meiner ſchmeichleriſchen Freunde.
Ueberrechne ich nur obenhin, wie viele Thorheiten binnen Jahres-
friſt in meinem Herzen geboren ſind, von welchen nicht wenige
ſorgfaͤltig von mir geheget wurden, und zu einem ziemlichen Alter
gelangten: ſo erſtaune ich uͤber meinen Leichtſinn und uͤber die
verſchonende Huld meines Gottes. Saͤhe ich jetzt mit untruͤgli-
chem Auge, wie ich am Tage des Gerichts ſehen werde, alle mei-
ne Fehltritte des vorigen Jahres, auch diejenigen, zu welchen
mir nur Kraft und Gelegenheit fehlte, ſo wuͤrde ich mich vor mir
ſelber fuͤrchten. O! welch ein verraͤtheriſcher Freund wohnet in
meiner Bruſt, und begleitet mich durch alle Auftritte des Lebens!
In dieſer Stunde macht er mit Gott einen Bund, und in der
folgenden tritt er ſeine Gebote mit Fuͤſſen! Geſtern erſt uͤbergab
ich mein Herz aufs neue an Gott, und heute finde ich es ſchon
neuer Untugenden ſchuldig. Denn gleichwie jetzt Gaͤrten und
Fluren erſtarret da liegen, ſo iſt auch mein Gemuͤth kalt und zum
Guten erſtorben. Wollen habe ich wol, aber Vollbringen das
Gute finde ich nicht in mir! Wie ſchrecklich werde ich demnach
nicht meine Suͤndenſchuld dieſes Jahr hindurch vermehren!
Nein! das wolle Gott nicht! Beſſern will ich mich, mehr
uͤber mich wachen und eifriger in die Fußtapfen meines Erloͤſers
treten. Jetzt will ich Wuͤnſche an mein Herz thun, und mich
oͤfters das Jahr uͤber fragen: ob es blos bei Wuͤnſchen geblieben
ſey. Verfuͤhrtes Herz! dir wuͤnſche ich in dieſem Jahre mehr
Abſcheu
A 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 5[35]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/42>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.