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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 30te Junius.
gabst! Wehe mir, o! ewig wehe mir, wenn sich alsdann Ein
Laut wider mich erhebet, und Jesus schweigt! Sprich, mein
Gewissen! was wollen wir antworten?

Ein halbes Jahr ist wieder vollendet; ich würde wol betre-
ten seyn, wenn ich die andre Hälfte nicht auch gesund und im
Wohlstande vollenden solte. Aber was darf ich noch hoffen, da
ich schon so viel erhalten habe! Gott! wer bist du, und wer bin
ich! O! könte ich mit Einem Blicke deinen Ernst und deine
Liebe, und die glühende oder blasse Gesichter der Auferstandnen,
am jüngsten Gerichte sehen: warlich ich würde heute noch --
mich schläfert! Wie träge, wie wankelmüthig! Von den er-
habensten Vorstellungen sinke ich gähnend auf mein Lager! Und
bin doch bestimmt, ewig zu wachen und zu loben! Hilf mir,
mein Erbarmer! Ermuntre mich zu deinem Lobe! Laß mir
dein Gericht stets vor Augen seyn, und mich immer nach Gnade
dürsten! Du bist mein, o Jesu! Dein Gehorsam ist der mei-
nige: ich mag leben oder sterben; die Erde mag sich in ihrem
Gleise drehen, oder flammend dahinstürzen; ich mag mich schla-
fen legen, oder auferstehn! Du bist mein, o Jesu! in Ewig-
keit, Amen!



Kirchen-

Der 30te Junius.
gabſt! Wehe mir, o! ewig wehe mir, wenn ſich alsdann Ein
Laut wider mich erhebet, und Jeſus ſchweigt! Sprich, mein
Gewiſſen! was wollen wir antworten?

Ein halbes Jahr iſt wieder vollendet; ich wuͤrde wol betre-
ten ſeyn, wenn ich die andre Haͤlfte nicht auch geſund und im
Wohlſtande vollenden ſolte. Aber was darf ich noch hoffen, da
ich ſchon ſo viel erhalten habe! Gott! wer biſt du, und wer bin
ich! O! koͤnte ich mit Einem Blicke deinen Ernſt und deine
Liebe, und die gluͤhende oder blaſſe Geſichter der Auferſtandnen,
am juͤngſten Gerichte ſehen: warlich ich wuͤrde heute noch —
mich ſchlaͤfert! Wie traͤge, wie wankelmuͤthig! Von den er-
habenſten Vorſtellungen ſinke ich gaͤhnend auf mein Lager! Und
bin doch beſtimmt, ewig zu wachen und zu loben! Hilf mir,
mein Erbarmer! Ermuntre mich zu deinem Lobe! Laß mir
dein Gericht ſtets vor Augen ſeyn, und mich immer nach Gnade
duͤrſten! Du biſt mein, o Jeſu! Dein Gehorſam iſt der mei-
nige: ich mag leben oder ſterben; die Erde mag ſich in ihrem
Gleiſe drehen, oder flammend dahinſtuͤrzen; ich mag mich ſchla-
fen legen, oder auferſtehn! Du biſt mein, o Jeſu! in Ewig-
keit, Amen!



Kirchen-
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[376[406]/0413] Der 30te Junius. gabſt! Wehe mir, o! ewig wehe mir, wenn ſich alsdann Ein Laut wider mich erhebet, und Jeſus ſchweigt! Sprich, mein Gewiſſen! was wollen wir antworten? Ein halbes Jahr iſt wieder vollendet; ich wuͤrde wol betre- ten ſeyn, wenn ich die andre Haͤlfte nicht auch geſund und im Wohlſtande vollenden ſolte. Aber was darf ich noch hoffen, da ich ſchon ſo viel erhalten habe! Gott! wer biſt du, und wer bin ich! O! koͤnte ich mit Einem Blicke deinen Ernſt und deine Liebe, und die gluͤhende oder blaſſe Geſichter der Auferſtandnen, am juͤngſten Gerichte ſehen: warlich ich wuͤrde heute noch — mich ſchlaͤfert! Wie traͤge, wie wankelmuͤthig! Von den er- habenſten Vorſtellungen ſinke ich gaͤhnend auf mein Lager! Und bin doch beſtimmt, ewig zu wachen und zu loben! Hilf mir, mein Erbarmer! Ermuntre mich zu deinem Lobe! Laß mir dein Gericht ſtets vor Augen ſeyn, und mich immer nach Gnade duͤrſten! Du biſt mein, o Jeſu! Dein Gehorſam iſt der mei- nige: ich mag leben oder ſterben; die Erde mag ſich in ihrem Gleiſe drehen, oder flammend dahinſtuͤrzen; ich mag mich ſchla- fen legen, oder auferſtehn! Du biſt mein, o Jeſu! in Ewig- keit, Amen! Kirchen-

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 376[406]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/413>, abgerufen am 27.11.2024.