Jch bin ein Gast auf Erden Und hab hie keinen Stand: Der Himmel soll mir werden, Dort ist mein Vaterland.
Jch sehe von tage zu tage mehr ein, daß ich hier ein Fremdling bin, und in diese Welt nicht gehöre. Alles, was um und neben mir ist, und was ich mein Eigenthum nenne, wird bald eines andern seyn.
Dort ruhen schon so viele meiner nächsten Freunde, und ich verliere auf allen Seiten so viel, daß es scheint, es sey mir alles nur zum Verlieren gegeben worden. Was habe ich denn noch von alle dem, was in der Jugend meine Freude war? So gar mein jetziger Körper ist nicht ganz der meinige, sondern dunstet mir beständig davon. Jch bin ein Pilger, der die Bequemlichkeit einer jedesmaligen Herberge mitnimt, aber auf nichts Rechnung machen darf. Treffe ich einen guten Gesell- schafter an: schön! nur zu sehr muß ich mich nicht einlassen, weil doch jeder von uns seine besondre Strasse wandert. Würklich, man solte auf Erden keine zu enge Freundschaft knüpfen; entwe- der sie zerschlägt sich von selbst, oder sie zerreisset beim Scheiden das Herz. Und welche wichtige Frage: wird uns auch Himmel und Hölle trennen? Hier wollen wir zwar anfangen, uns zärt- lich zu lieben: aber
Dort werd ich erst die reinste Freundschaft schätzen Und, bei dem Glück, sie ewig fortzusetzen, Jhr heilig Recht verklärt verstehn. Dort werd ich erst ihr ganzes Heil erfahren; Mich ewig freun, daß wir so glücklich waren, Fromm mit einander umzugehn.
Jch
Tiedens Abendand. I. Th. Aa
Der 27te Junius.
Jch bin ein Gaſt auf Erden Und hab hie keinen Stand: Der Himmel ſoll mir werden, Dort iſt mein Vaterland.
Jch ſehe von tage zu tage mehr ein, daß ich hier ein Fremdling bin, und in dieſe Welt nicht gehoͤre. Alles, was um und neben mir iſt, und was ich mein Eigenthum nenne, wird bald eines andern ſeyn.
Dort ruhen ſchon ſo viele meiner naͤchſten Freunde, und ich verliere auf allen Seiten ſo viel, daß es ſcheint, es ſey mir alles nur zum Verlieren gegeben worden. Was habe ich denn noch von alle dem, was in der Jugend meine Freude war? So gar mein jetziger Koͤrper iſt nicht ganz der meinige, ſondern dunſtet mir beſtaͤndig davon. Jch bin ein Pilger, der die Bequemlichkeit einer jedesmaligen Herberge mitnimt, aber auf nichts Rechnung machen darf. Treffe ich einen guten Geſell- ſchafter an: ſchoͤn! nur zu ſehr muß ich mich nicht einlaſſen, weil doch jeder von uns ſeine beſondre Straſſe wandert. Wuͤrklich, man ſolte auf Erden keine zu enge Freundſchaft knuͤpfen; entwe- der ſie zerſchlaͤgt ſich von ſelbſt, oder ſie zerreiſſet beim Scheiden das Herz. Und welche wichtige Frage: wird uns auch Himmel und Hoͤlle trennen? Hier wollen wir zwar anfangen, uns zaͤrt- lich zu lieben: aber
Dort werd ich erſt die reinſte Freundſchaft ſchaͤtzen Und, bei dem Gluͤck, ſie ewig fortzuſetzen, Jhr heilig Recht verklaͤrt verſtehn. Dort werd ich erſt ihr ganzes Heil erfahren; Mich ewig freun, daß wir ſo gluͤcklich waren, Fromm mit einander umzugehn.
Jch
Tiedens Abendand. I. Th. Aa
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[369[399]/0406]
Der 27te Junius.
Jch bin ein Gaſt auf Erden
Und hab hie keinen Stand:
Der Himmel ſoll mir werden,
Dort iſt mein Vaterland.
Jch ſehe von tage zu tage mehr ein, daß ich hier ein
Fremdling bin, und in dieſe Welt nicht gehoͤre. Alles,
was um und neben mir iſt, und was ich mein Eigenthum nenne,
wird bald eines andern ſeyn.
Dort ruhen ſchon ſo viele meiner naͤchſten Freunde, und
ich verliere auf allen Seiten ſo viel, daß es ſcheint, es ſey mir
alles nur zum Verlieren gegeben worden. Was habe ich denn
noch von alle dem, was in der Jugend meine Freude war? So
gar mein jetziger Koͤrper iſt nicht ganz der meinige, ſondern
dunſtet mir beſtaͤndig davon. Jch bin ein Pilger, der die
Bequemlichkeit einer jedesmaligen Herberge mitnimt, aber auf
nichts Rechnung machen darf. Treffe ich einen guten Geſell-
ſchafter an: ſchoͤn! nur zu ſehr muß ich mich nicht einlaſſen, weil
doch jeder von uns ſeine beſondre Straſſe wandert. Wuͤrklich,
man ſolte auf Erden keine zu enge Freundſchaft knuͤpfen; entwe-
der ſie zerſchlaͤgt ſich von ſelbſt, oder ſie zerreiſſet beim Scheiden
das Herz. Und welche wichtige Frage: wird uns auch Himmel
und Hoͤlle trennen? Hier wollen wir zwar anfangen, uns zaͤrt-
lich zu lieben: aber
Dort werd ich erſt die reinſte Freundſchaft ſchaͤtzen
Und, bei dem Gluͤck, ſie ewig fortzuſetzen,
Jhr heilig Recht verklaͤrt verſtehn.
Dort werd ich erſt ihr ganzes Heil erfahren;
Mich ewig freun, daß wir ſo gluͤcklich waren,
Fromm mit einander umzugehn.
Jch
Tiedens Abendand. I. Th. Aa
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 369[399]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/406>, abgerufen am 22.02.2025.
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