Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 25te Junius. Unser äussrer Wohlstand erreicht den höchsten Grad; wir über-lassen der Jugend Spiel und Tanz, und erholen uns an der Ehre. Was aber das vorzüglichste ist: so finden wir nun immer mehr Geschmack an einer stillen Bewunderung Gottes, und ziehen ein erbauliches Buch dem reizendsten Romane vor. Das hohe Alter endlich hat zwar viele Ungemächlichkeiten: aber sie betreffen doch meistens nur den Körper, und werden, wie ich am ersten Abend dieses Monats erwog, sehr reichlich vergolten. Wenn es Ausnahmen von diesen Regeln gibt, so sind sie Gott! deine Wohlthaten folgen mir in jedem Lebensalter, Der
Der 25te Junius. Unſer aͤuſſrer Wohlſtand erreicht den hoͤchſten Grad; wir uͤber-laſſen der Jugend Spiel und Tanz, und erholen uns an der Ehre. Was aber das vorzuͤglichſte iſt: ſo finden wir nun immer mehr Geſchmack an einer ſtillen Bewunderung Gottes, und ziehen ein erbauliches Buch dem reizendſten Romane vor. Das hohe Alter endlich hat zwar viele Ungemaͤchlichkeiten: aber ſie betreffen doch meiſtens nur den Koͤrper, und werden, wie ich am erſten Abend dieſes Monats erwog, ſehr reichlich vergolten. Wenn es Ausnahmen von dieſen Regeln gibt, ſo ſind ſie Gott! deine Wohlthaten folgen mir in jedem Lebensalter, Der
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0403" n="366[396]"/><fw place="top" type="header">Der 25<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/> Unſer aͤuſſrer Wohlſtand erreicht den hoͤchſten Grad; wir uͤber-<lb/> laſſen der Jugend Spiel und Tanz, und erholen uns an der Ehre.<lb/> Was aber das vorzuͤglichſte iſt: ſo finden wir nun immer mehr<lb/> Geſchmack an einer ſtillen Bewunderung Gottes, und ziehen ein<lb/> erbauliches Buch dem reizendſten Romane vor. Das hohe Alter<lb/> endlich hat zwar viele Ungemaͤchlichkeiten: aber ſie betreffen doch<lb/> meiſtens nur den Koͤrper, und werden, wie ich am erſten Abend<lb/> dieſes Monats erwog, ſehr reichlich vergolten.</p><lb/> <p>Wenn es Ausnahmen von dieſen Regeln gibt, ſo ſind ſie<lb/> meiſtens unſre eigne Schuld. Die Suͤnde kehret alle Ordnung<lb/> Gottes um, vergaͤllet unſchuldige Freuden und wiehert nach ver-<lb/> botnen giftigen Fruͤchten. Genug, wir koͤnnen unter der Anlei-<lb/> tung der Tugend in jedem Alter gluͤcklich ſeyn, und es iſt Miß-<lb/> vergnuͤgen und Geiz, wenn wir juͤnger oder aͤlter zu ſeyn wuͤn-<lb/> ſchen; Klugheit aber, von den Vorzuͤgen jedes Alters ſeinem<lb/> Charakter etwas beizumiſchen. Der Juͤngling denke nicht zu<lb/> jung, der Greis nicht zu alt!</p><lb/> <p>Gott! deine Wohlthaten folgen mir in jedem Lebensalter,<lb/> wie der Schatten dem Koͤrper, nach. Solte ich alſo ſcheel<lb/> daruͤber ſehen, daß du ſo guͤtig biſt, und jedem Alter gewiſſe Un-<lb/> gemaͤchlichkeiten, als warnende Aufſeher beigeſellet haſt? Wir<lb/> wuͤrden uns, ohne ſie, ja nur uͤbernehmen, und der Welt, noch<lb/> mehr aber dem Himmel unbrauchbar werden. Dank ſey dir,<lb/> Allguͤtigſter! fuͤr alles Gute, das ich von Kindesbeinen an er-<lb/> fahren habe! Jnbruͤnſtiger Dank auch fuͤr das, was ich nicht<lb/> erfuhr, ſondern erſt in der Ewigkeit einſehen werde! Aber, ge-<lb/> nieſſe ich denn auch wuͤrklich des Vorzugs meines gegenwaͤrtigen<lb/> Alters? Bin ich ſo gluͤcklich und vergnuͤgt, wie ich es jetzt nach<lb/> deiner liebreichen Beſtimmung ſeyn ſolte? O! wenn ich mir<lb/> Vorwuͤrfe zu machen habe: ſo rede laut, mein Gewiſſen! und<lb/> du, Herr Jeſu! mache mich zu deinem Kinde, und heil alle<lb/> meine Gebrechen!</p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [366[396]/0403]
Der 25te Junius.
Unſer aͤuſſrer Wohlſtand erreicht den hoͤchſten Grad; wir uͤber-
laſſen der Jugend Spiel und Tanz, und erholen uns an der Ehre.
Was aber das vorzuͤglichſte iſt: ſo finden wir nun immer mehr
Geſchmack an einer ſtillen Bewunderung Gottes, und ziehen ein
erbauliches Buch dem reizendſten Romane vor. Das hohe Alter
endlich hat zwar viele Ungemaͤchlichkeiten: aber ſie betreffen doch
meiſtens nur den Koͤrper, und werden, wie ich am erſten Abend
dieſes Monats erwog, ſehr reichlich vergolten.
Wenn es Ausnahmen von dieſen Regeln gibt, ſo ſind ſie
meiſtens unſre eigne Schuld. Die Suͤnde kehret alle Ordnung
Gottes um, vergaͤllet unſchuldige Freuden und wiehert nach ver-
botnen giftigen Fruͤchten. Genug, wir koͤnnen unter der Anlei-
tung der Tugend in jedem Alter gluͤcklich ſeyn, und es iſt Miß-
vergnuͤgen und Geiz, wenn wir juͤnger oder aͤlter zu ſeyn wuͤn-
ſchen; Klugheit aber, von den Vorzuͤgen jedes Alters ſeinem
Charakter etwas beizumiſchen. Der Juͤngling denke nicht zu
jung, der Greis nicht zu alt!
Gott! deine Wohlthaten folgen mir in jedem Lebensalter,
wie der Schatten dem Koͤrper, nach. Solte ich alſo ſcheel
daruͤber ſehen, daß du ſo guͤtig biſt, und jedem Alter gewiſſe Un-
gemaͤchlichkeiten, als warnende Aufſeher beigeſellet haſt? Wir
wuͤrden uns, ohne ſie, ja nur uͤbernehmen, und der Welt, noch
mehr aber dem Himmel unbrauchbar werden. Dank ſey dir,
Allguͤtigſter! fuͤr alles Gute, das ich von Kindesbeinen an er-
fahren habe! Jnbruͤnſtiger Dank auch fuͤr das, was ich nicht
erfuhr, ſondern erſt in der Ewigkeit einſehen werde! Aber, ge-
nieſſe ich denn auch wuͤrklich des Vorzugs meines gegenwaͤrtigen
Alters? Bin ich ſo gluͤcklich und vergnuͤgt, wie ich es jetzt nach
deiner liebreichen Beſtimmung ſeyn ſolte? O! wenn ich mir
Vorwuͤrfe zu machen habe: ſo rede laut, mein Gewiſſen! und
du, Herr Jeſu! mache mich zu deinem Kinde, und heil alle
meine Gebrechen!
Der
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |