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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 25te Junius.
Was klagst du ängstlich um dein Leben?
Er, der es dir gegeben hat,
Hat auch für jeden Tritt und Pfad
Dir Hülf und Freuden mitgegeben.


Die Vorzüge jedes Alters haben, wie die Monate ihren
eignen Werth. Schon aus dem Munde der Säuglinge
hat sich Gott ein Lob zubereitet, und jedes Alter muß bekennen:
Herr! du hast grosses an mir gethan!

Meine ersten Jahre brachte ich unter Schlaf und vieler
Pflege zu. Mein zarter Körper drohte zwar immer Krankheit
und Tod: aber würde es wol ein Unglück für mich seyn, wenn
ich in den Windeln gestorben wäre? Jch lebte damals in einer glück-
lichen Unschuld, und meine Seele hatte sich noch keines Verbre-
chens schuldig gemacht. So flossen einige Jahre dahin; ich
ward mehr Mensch, denn ich fing an zu beten, und zwar ohne
Glerigkeit und ohne knechtische Furcht. Uebrigens waren sorg-
lose Spiele meine ganze Arbeit. Ein Alter, welches ein nagen-
des Gewissen oder ein kummervolles Herz sich öfters zurücke-
wünscht! Die Jünglingsjahre haben gleichfals so viele Reize,
wie der Pfirsichbaum in seiner Blüte. Schönheit, Gesundheit,
Gedächtniß, Einbildungskraft, erreichen alsdann den Gipfel.
Ein weiches Herz und Menschenliebe machen dis Alter liebens-
werth. Ach! und beneidenswürdig wäre es, wenn erhitzte Lei-
denschaften keine späte Reue zubereiteten! Das männliche Alter
theilet sich in die Vorzüge des Jünglings und Greisen. Es
verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen, und genießt meh-
rentheils das Vergnügen, Eltern und Kinder am Leben zu haben,
welche beide gleich stark zur Tugend und Freude locken. Jm
vierzigsten, funfzigsten Jahre werden der Uebereilungen weniger

Unser


Der 25te Junius.
Was klagſt du aͤngſtlich um dein Leben?
Er, der es dir gegeben hat,
Hat auch fuͤr jeden Tritt und Pfad
Dir Huͤlf und Freuden mitgegeben.


Die Vorzuͤge jedes Alters haben, wie die Monate ihren
eignen Werth. Schon aus dem Munde der Saͤuglinge
hat ſich Gott ein Lob zubereitet, und jedes Alter muß bekennen:
Herr! du haſt groſſes an mir gethan!

Meine erſten Jahre brachte ich unter Schlaf und vieler
Pflege zu. Mein zarter Koͤrper drohte zwar immer Krankheit
und Tod: aber wuͤrde es wol ein Ungluͤck fuͤr mich ſeyn, wenn
ich in den Windeln geſtorben waͤre? Jch lebte damals in einer gluͤck-
lichen Unſchuld, und meine Seele hatte ſich noch keines Verbre-
chens ſchuldig gemacht. So floſſen einige Jahre dahin; ich
ward mehr Menſch, denn ich fing an zu beten, und zwar ohne
Glerigkeit und ohne knechtiſche Furcht. Uebrigens waren ſorg-
loſe Spiele meine ganze Arbeit. Ein Alter, welches ein nagen-
des Gewiſſen oder ein kummervolles Herz ſich oͤfters zuruͤcke-
wuͤnſcht! Die Juͤnglingsjahre haben gleichfals ſo viele Reize,
wie der Pfirſichbaum in ſeiner Bluͤte. Schoͤnheit, Geſundheit,
Gedaͤchtniß, Einbildungskraft, erreichen alsdann den Gipfel.
Ein weiches Herz und Menſchenliebe machen dis Alter liebens-
werth. Ach! und beneidenswuͤrdig waͤre es, wenn erhitzte Lei-
denſchaften keine ſpaͤte Reue zubereiteten! Das maͤnnliche Alter
theilet ſich in die Vorzuͤge des Juͤnglings und Greiſen. Es
verbindet das Angenehme mit dem Nuͤtzlichen, und genießt meh-
rentheils das Vergnuͤgen, Eltern und Kinder am Leben zu haben,
welche beide gleich ſtark zur Tugend und Freude locken. Jm
vierzigſten, funfzigſten Jahre werden der Uebereilungen weniger

Unſer
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[365[395]/0402] Der 25te Junius. Was klagſt du aͤngſtlich um dein Leben? Er, der es dir gegeben hat, Hat auch fuͤr jeden Tritt und Pfad Dir Huͤlf und Freuden mitgegeben. Die Vorzuͤge jedes Alters haben, wie die Monate ihren eignen Werth. Schon aus dem Munde der Saͤuglinge hat ſich Gott ein Lob zubereitet, und jedes Alter muß bekennen: Herr! du haſt groſſes an mir gethan! Meine erſten Jahre brachte ich unter Schlaf und vieler Pflege zu. Mein zarter Koͤrper drohte zwar immer Krankheit und Tod: aber wuͤrde es wol ein Ungluͤck fuͤr mich ſeyn, wenn ich in den Windeln geſtorben waͤre? Jch lebte damals in einer gluͤck- lichen Unſchuld, und meine Seele hatte ſich noch keines Verbre- chens ſchuldig gemacht. So floſſen einige Jahre dahin; ich ward mehr Menſch, denn ich fing an zu beten, und zwar ohne Glerigkeit und ohne knechtiſche Furcht. Uebrigens waren ſorg- loſe Spiele meine ganze Arbeit. Ein Alter, welches ein nagen- des Gewiſſen oder ein kummervolles Herz ſich oͤfters zuruͤcke- wuͤnſcht! Die Juͤnglingsjahre haben gleichfals ſo viele Reize, wie der Pfirſichbaum in ſeiner Bluͤte. Schoͤnheit, Geſundheit, Gedaͤchtniß, Einbildungskraft, erreichen alsdann den Gipfel. Ein weiches Herz und Menſchenliebe machen dis Alter liebens- werth. Ach! und beneidenswuͤrdig waͤre es, wenn erhitzte Lei- denſchaften keine ſpaͤte Reue zubereiteten! Das maͤnnliche Alter theilet ſich in die Vorzuͤge des Juͤnglings und Greiſen. Es verbindet das Angenehme mit dem Nuͤtzlichen, und genießt meh- rentheils das Vergnuͤgen, Eltern und Kinder am Leben zu haben, welche beide gleich ſtark zur Tugend und Freude locken. Jm vierzigſten, funfzigſten Jahre werden der Uebereilungen weniger Unſer

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 365[395]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/402>, abgerufen am 26.11.2024.