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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 24te Junius.
Jch weiß die Laster, welche mich entweihen.
Jch fühle sie, ich sehe, wie sie dränen:
Sie schrecken mich des Tags; in bangen Nächten
Mich Ungerechten!


Das Gewissen bey schlaflosen Nächten ist empfindlich
wie ein blos liegender Nerve. Oft ruft es verjährte Laster
zurück und stellt sie mir unter die Augen! Gleich dem Johannis-
wurm, der nur im finstern glänzet, werden unsre Sünden durch
die Dunkelheit in ein helleres Licht gesetzt. Und o Gott! was
für Erscheinungen sind das!

Die Thorheiten der Jugend paßiren zuerst die Musterung,
und die Laster des reifern Alters folgen nach. Auch der zu tode
gespielte Vogel ist mit in ihren Reihen! Die junge Brut, die
langsam im Neste verhungerte, fodert ihre Ernährer von mei-
nen Händen zurück! -- Aber die Auftritte werden immer ernst-
licher! -- Der Greis, der mich um ein Almosen anflehte, den
ich aber mit Ungestüm abwies, und den der Mangel tödtete;
der Redliche, den ich ins Elend zu stürzen wußte; die Tugend,
die zu verführen ich unselige Geschicklichkeit genug besaß --
o! welch ein drohendes Heer! Jch zittre bei ihrem Anblick!
Größtentheils hat sie schon der Gram aufgerieben: aber aus der
Gruft heben sie noch jetzt nervenlose Hände zum Richter empor,
und flehen entweder um meine Bestrafung oder -- Besserung.

Jst eine solche schlaflose Nacht nicht ein Vorschmack der
Hölle? So tretet doch her zu mir, ihr Freunde und Mitschul-
dige! Verscheucht die Schreckenbilder, die meine Seele mit
Schauer erfüllen! -- Aber, ihr alle habt mich verlassen! Euch
hält der Schlaf in seinen Armen fest, da ich indeß vom erwachten

Ge-


Der 24te Junius.
Jch weiß die Laſter, welche mich entweihen.
Jch fuͤhle ſie, ich ſehe, wie ſie draͤnen:
Sie ſchrecken mich des Tags; in bangen Naͤchten
Mich Ungerechten!


Das Gewiſſen bey ſchlafloſen Naͤchten iſt empfindlich
wie ein blos liegender Nerve. Oft ruft es verjaͤhrte Laſter
zuruͤck und ſtellt ſie mir unter die Augen! Gleich dem Johannis-
wurm, der nur im finſtern glaͤnzet, werden unſre Suͤnden durch
die Dunkelheit in ein helleres Licht geſetzt. Und o Gott! was
fuͤr Erſcheinungen ſind das!

Die Thorheiten der Jugend paßiren zuerſt die Muſterung,
und die Laſter des reifern Alters folgen nach. Auch der zu tode
geſpielte Vogel iſt mit in ihren Reihen! Die junge Brut, die
langſam im Neſte verhungerte, fodert ihre Ernaͤhrer von mei-
nen Haͤnden zuruͤck! — Aber die Auftritte werden immer ernſt-
licher! — Der Greis, der mich um ein Almoſen anflehte, den
ich aber mit Ungeſtuͤm abwies, und den der Mangel toͤdtete;
der Redliche, den ich ins Elend zu ſtuͤrzen wußte; die Tugend,
die zu verfuͤhren ich unſelige Geſchicklichkeit genug beſaß —
o! welch ein drohendes Heer! Jch zittre bei ihrem Anblick!
Groͤßtentheils hat ſie ſchon der Gram aufgerieben: aber aus der
Gruft heben ſie noch jetzt nervenloſe Haͤnde zum Richter empor,
und flehen entweder um meine Beſtrafung oder — Beſſerung.

Jſt eine ſolche ſchlafloſe Nacht nicht ein Vorſchmack der
Hoͤlle? So tretet doch her zu mir, ihr Freunde und Mitſchul-
dige! Verſcheucht die Schreckenbilder, die meine Seele mit
Schauer erfuͤllen! — Aber, ihr alle habt mich verlaſſen! Euch
haͤlt der Schlaf in ſeinen Armen feſt, da ich indeß vom erwachten

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[363[393]/0400] Der 24te Junius. Jch weiß die Laſter, welche mich entweihen. Jch fuͤhle ſie, ich ſehe, wie ſie draͤnen: Sie ſchrecken mich des Tags; in bangen Naͤchten Mich Ungerechten! Das Gewiſſen bey ſchlafloſen Naͤchten iſt empfindlich wie ein blos liegender Nerve. Oft ruft es verjaͤhrte Laſter zuruͤck und ſtellt ſie mir unter die Augen! Gleich dem Johannis- wurm, der nur im finſtern glaͤnzet, werden unſre Suͤnden durch die Dunkelheit in ein helleres Licht geſetzt. Und o Gott! was fuͤr Erſcheinungen ſind das! Die Thorheiten der Jugend paßiren zuerſt die Muſterung, und die Laſter des reifern Alters folgen nach. Auch der zu tode geſpielte Vogel iſt mit in ihren Reihen! Die junge Brut, die langſam im Neſte verhungerte, fodert ihre Ernaͤhrer von mei- nen Haͤnden zuruͤck! — Aber die Auftritte werden immer ernſt- licher! — Der Greis, der mich um ein Almoſen anflehte, den ich aber mit Ungeſtuͤm abwies, und den der Mangel toͤdtete; der Redliche, den ich ins Elend zu ſtuͤrzen wußte; die Tugend, die zu verfuͤhren ich unſelige Geſchicklichkeit genug beſaß — o! welch ein drohendes Heer! Jch zittre bei ihrem Anblick! Groͤßtentheils hat ſie ſchon der Gram aufgerieben: aber aus der Gruft heben ſie noch jetzt nervenloſe Haͤnde zum Richter empor, und flehen entweder um meine Beſtrafung oder — Beſſerung. Jſt eine ſolche ſchlafloſe Nacht nicht ein Vorſchmack der Hoͤlle? So tretet doch her zu mir, ihr Freunde und Mitſchul- dige! Verſcheucht die Schreckenbilder, die meine Seele mit Schauer erfuͤllen! — Aber, ihr alle habt mich verlaſſen! Euch haͤlt der Schlaf in ſeinen Armen feſt, da ich indeß vom erwachten Ge-

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 363[393]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/400>, abgerufen am 25.11.2024.