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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 23te Junius.
Gott! du weiß'st es, meine Jahre
Bring ich zu, wie ein Geschwätz!
Mich erschrecket nicht die Bahre
Nicht dein donnerndes Gesetz!
Ruhig steh ich oft von fern
Und verleugne meinen Herrn!
Ohne Thränen, ohn Empfinden,
Ueb ich täglich mich in Sünden!


Der Lasterhafte sey noch so geschickt bei seinem weltlichen Spiel-
werk: betrachtet man ihn genauer, so ist die Ungeschick-
lichkeit der Sünder
in den wichtigsten Dingen sehr auffallend.
Sie sind dem Knaben gleich, der bei Zank und Spiel der Vor-
schnellste, in der Schule aber ein Tropf ist.

Wollüstlinge, Schmeichler, Betrüger: welche Redner sind
das nicht gemeiniglich! aber wie stumm, wie ungeschickt, wenn
sie mit Gott reden sollen! Es ist ihnen nichts zu hoch und
schwer: sie können alles, nur nicht beten. Wie manche Thoren
in glänzender Gesellschaft sprechen stundenlang von Zeitungen,
Pferden und neuen Moden, mit einer fliessenden Beredsamkeit:
aber vom seligmachenden Glauben, von Christi Verdienst, von
göttlicher Bearbeitung unsrer Seelen, wissen und sprechen sie
weniger, als ihre Bedienten. Romanen verschlingen sie mit
den Augen, und bei dem Worte Gottes schlafen sie ein. Sie
können nicht Einen Bußpsalm mit Andacht lesen. Sie sind so
unverständige Sklaven ihrer Leidenschaft, daß sie einem Schooß-
hunde lieber die niedrigste Dienste erweisen, als daß sie einen
armen oder kranken Mitbruder unterstützen und ihm Handrei-
chung thun solten. Französisch mühen sie sich zu reden, aber
nicht christlich. Ausländische Gedichte harangiren sie, und kön-
nen das Vater unser nicht mehr.

Es
Z 5


Der 23te Junius.
Gott! du weiß’ſt es, meine Jahre
Bring ich zu, wie ein Geſchwaͤtz!
Mich erſchrecket nicht die Bahre
Nicht dein donnerndes Geſetz!
Ruhig ſteh ich oft von fern
Und verleugne meinen Herrn!
Ohne Thraͤnen, ohn Empfinden,
Ueb ich taͤglich mich in Suͤnden!


Der Laſterhafte ſey noch ſo geſchickt bei ſeinem weltlichen Spiel-
werk: betrachtet man ihn genauer, ſo iſt die Ungeſchick-
lichkeit der Suͤnder
in den wichtigſten Dingen ſehr auffallend.
Sie ſind dem Knaben gleich, der bei Zank und Spiel der Vor-
ſchnellſte, in der Schule aber ein Tropf iſt.

Wolluͤſtlinge, Schmeichler, Betruͤger: welche Redner ſind
das nicht gemeiniglich! aber wie ſtumm, wie ungeſchickt, wenn
ſie mit Gott reden ſollen! Es iſt ihnen nichts zu hoch und
ſchwer: ſie koͤnnen alles, nur nicht beten. Wie manche Thoren
in glaͤnzender Geſellſchaft ſprechen ſtundenlang von Zeitungen,
Pferden und neuen Moden, mit einer flieſſenden Beredſamkeit:
aber vom ſeligmachenden Glauben, von Chriſti Verdienſt, von
goͤttlicher Bearbeitung unſrer Seelen, wiſſen und ſprechen ſie
weniger, als ihre Bedienten. Romanen verſchlingen ſie mit
den Augen, und bei dem Worte Gottes ſchlafen ſie ein. Sie
koͤnnen nicht Einen Bußpſalm mit Andacht leſen. Sie ſind ſo
unverſtaͤndige Sklaven ihrer Leidenſchaft, daß ſie einem Schooß-
hunde lieber die niedrigſte Dienſte erweiſen, als daß ſie einen
armen oder kranken Mitbruder unterſtuͤtzen und ihm Handrei-
chung thun ſolten. Franzoͤſiſch muͤhen ſie ſich zu reden, aber
nicht chriſtlich. Auslaͤndiſche Gedichte harangiren ſie, und koͤn-
nen das Vater unſer nicht mehr.

Es
Z 5
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[361[391]/0398] Der 23te Junius. Gott! du weiß’ſt es, meine Jahre Bring ich zu, wie ein Geſchwaͤtz! Mich erſchrecket nicht die Bahre Nicht dein donnerndes Geſetz! Ruhig ſteh ich oft von fern Und verleugne meinen Herrn! Ohne Thraͤnen, ohn Empfinden, Ueb ich taͤglich mich in Suͤnden! Der Laſterhafte ſey noch ſo geſchickt bei ſeinem weltlichen Spiel- werk: betrachtet man ihn genauer, ſo iſt die Ungeſchick- lichkeit der Suͤnder in den wichtigſten Dingen ſehr auffallend. Sie ſind dem Knaben gleich, der bei Zank und Spiel der Vor- ſchnellſte, in der Schule aber ein Tropf iſt. Wolluͤſtlinge, Schmeichler, Betruͤger: welche Redner ſind das nicht gemeiniglich! aber wie ſtumm, wie ungeſchickt, wenn ſie mit Gott reden ſollen! Es iſt ihnen nichts zu hoch und ſchwer: ſie koͤnnen alles, nur nicht beten. Wie manche Thoren in glaͤnzender Geſellſchaft ſprechen ſtundenlang von Zeitungen, Pferden und neuen Moden, mit einer flieſſenden Beredſamkeit: aber vom ſeligmachenden Glauben, von Chriſti Verdienſt, von goͤttlicher Bearbeitung unſrer Seelen, wiſſen und ſprechen ſie weniger, als ihre Bedienten. Romanen verſchlingen ſie mit den Augen, und bei dem Worte Gottes ſchlafen ſie ein. Sie koͤnnen nicht Einen Bußpſalm mit Andacht leſen. Sie ſind ſo unverſtaͤndige Sklaven ihrer Leidenſchaft, daß ſie einem Schooß- hunde lieber die niedrigſte Dienſte erweiſen, als daß ſie einen armen oder kranken Mitbruder unterſtuͤtzen und ihm Handrei- chung thun ſolten. Franzoͤſiſch muͤhen ſie ſich zu reden, aber nicht chriſtlich. Auslaͤndiſche Gedichte harangiren ſie, und koͤn- nen das Vater unſer nicht mehr. Es Z 5

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 361[391]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/398>, abgerufen am 22.11.2024.