Pasquill auf sich, und ein ungestümer Bettler wird mit Hunden gehetzt; jener erhält eine Präbende, dieser eine Semmel: sie em- pfinden beide gleich viel und gleich wenig. Sie sehen es für Fol- gen ihrer Lebensart an.
Man nehme das Ganze zum Maaßstabe an. Von der Wiege bis zum Sarge summire man alle frohe und traurige Stunden; so wird zwischen Gelehrten und Unwissenden, Herrschaft und Ge- sinde, Gesunden und Kranken wenig Unterschied bleiben. Aber man lege nun noch das Schicksal der Kinder und Kindeskinder hinzu: so wird es schwer werden, den Ausschlag der Wage zu bestimmen. Und dis Schicksal würden sich Eltern doch gerne für ihr eignes anrechnen lassen? Der reiche, gesunde, schöne und geehrte Wucherer hat nichtswürdige Kinder und bettelnde oder gar strassenräuberische Enkel: sein armer, kränklicher, verachteter Nachbar blühet nach einem halben Jahrhundert in seinen Kindern; welche Familie unter beiden ist die glücklichste?
Rechne ich zu dem allen noch hinzu, was Gewissensbisse, Vergnügen an Gott, Macht der Religion, und sonderlich was Himmel und Hölle für einen Ausschlag geben: so bin ich geneigt zu glauben, daß alles im Gleichgewichte stehe. Schwanenpfüle und moderndes Stroh, indianische Vogelnester und Kleibrod, be- wirthen ihre alten Bekanten gleich gut. Nur das Gewissen, nur die Gnade oder Ungnade Gottes bestimmt unser Schicksal. So wie das heilige Abendmal alle Güste gleich setzet, so stellet über- haupt die Religion Jesu die ursprüngliche Gleichheit der Menschen her. Sie erniedriget den Hohen und erhebet den Niedrigen. Den Himmel im Gesichte, vergißt man der verschiednen Kleider- trachten der Erde, und schmecket und sieht nur, wie freundlich der Herr sey. O! du gütigster Gott! hätte ich doch niemals über mein Schicksal gemurret! Wenn ich jetzt ruhig schlafen kan; was fehlet mir? Und könte ich es nicht: so bin ich ja doch glück- lich, wenn ich mich mit dir auf meinem Lager unterhalten kan! Die Welt kan dem Christen wenig helfen oder schaden.
Der
Der 16te Junius.
Pasquill auf ſich, und ein ungeſtuͤmer Bettler wird mit Hunden gehetzt; jener erhaͤlt eine Praͤbende, dieſer eine Semmel: ſie em- pfinden beide gleich viel und gleich wenig. Sie ſehen es fuͤr Fol- gen ihrer Lebensart an.
Man nehme das Ganze zum Maaßſtabe an. Von der Wiege bis zum Sarge ſummire man alle frohe und traurige Stunden; ſo wird zwiſchen Gelehrten und Unwiſſenden, Herrſchaft und Ge- ſinde, Geſunden und Kranken wenig Unterſchied bleiben. Aber man lege nun noch das Schickſal der Kinder und Kindeskinder hinzu: ſo wird es ſchwer werden, den Ausſchlag der Wage zu beſtimmen. Und dis Schickſal wuͤrden ſich Eltern doch gerne fuͤr ihr eignes anrechnen laſſen? Der reiche, geſunde, ſchoͤne und geehrte Wucherer hat nichtswuͤrdige Kinder und bettelnde oder gar ſtraſſenraͤuberiſche Enkel: ſein armer, kraͤnklicher, verachteter Nachbar bluͤhet nach einem halben Jahrhundert in ſeinen Kindern; welche Familie unter beiden iſt die gluͤcklichſte?
Rechne ich zu dem allen noch hinzu, was Gewiſſensbiſſe, Vergnuͤgen an Gott, Macht der Religion, und ſonderlich was Himmel und Hoͤlle fuͤr einen Ausſchlag geben: ſo bin ich geneigt zu glauben, daß alles im Gleichgewichte ſtehe. Schwanenpfuͤle und moderndes Stroh, indianiſche Vogelneſter und Kleibrod, be- wirthen ihre alten Bekanten gleich gut. Nur das Gewiſſen, nur die Gnade oder Ungnade Gottes beſtimmt unſer Schickſal. So wie das heilige Abendmal alle Guͤſte gleich ſetzet, ſo ſtellet uͤber- haupt die Religion Jeſu die urſpruͤngliche Gleichheit der Menſchen her. Sie erniedriget den Hohen und erhebet den Niedrigen. Den Himmel im Geſichte, vergißt man der verſchiednen Kleider- trachten der Erde, und ſchmecket und ſieht nur, wie freundlich der Herr ſey. O! du guͤtigſter Gott! haͤtte ich doch niemals uͤber mein Schickſal gemurret! Wenn ich jetzt ruhig ſchlafen kan; was fehlet mir? Und koͤnte ich es nicht: ſo bin ich ja doch gluͤck- lich, wenn ich mich mit dir auf meinem Lager unterhalten kan! Die Welt kan dem Chriſten wenig helfen oder ſchaden.
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0385"n="348[378]"/><fwplace="top"type="header">Der 16<hirendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/>
Pasquill auf ſich, und ein ungeſtuͤmer Bettler wird mit Hunden<lb/>
gehetzt; jener erhaͤlt eine Praͤbende, dieſer eine Semmel: ſie em-<lb/>
pfinden beide gleich viel und gleich wenig. Sie ſehen es fuͤr Fol-<lb/>
gen ihrer Lebensart an.</p><lb/><p>Man nehme das Ganze zum Maaßſtabe an. Von der Wiege<lb/>
bis zum Sarge ſummire man alle frohe und traurige Stunden;<lb/>ſo wird zwiſchen Gelehrten und Unwiſſenden, Herrſchaft und Ge-<lb/>ſinde, Geſunden und Kranken wenig Unterſchied bleiben. Aber<lb/>
man lege nun noch das Schickſal der Kinder und Kindeskinder<lb/>
hinzu: ſo wird es ſchwer werden, den Ausſchlag der Wage zu<lb/>
beſtimmen. Und dis Schickſal wuͤrden ſich Eltern doch gerne<lb/>
fuͤr ihr eignes anrechnen laſſen? Der reiche, geſunde, ſchoͤne und<lb/>
geehrte Wucherer hat nichtswuͤrdige Kinder und bettelnde oder<lb/>
gar ſtraſſenraͤuberiſche Enkel: ſein armer, kraͤnklicher, verachteter<lb/>
Nachbar bluͤhet nach einem halben Jahrhundert in ſeinen Kindern;<lb/>
welche Familie unter beiden iſt die gluͤcklichſte?</p><lb/><p>Rechne ich zu dem allen noch hinzu, was Gewiſſensbiſſe,<lb/>
Vergnuͤgen an Gott, Macht der Religion, und ſonderlich was<lb/>
Himmel und Hoͤlle fuͤr einen Ausſchlag geben: ſo bin ich geneigt<lb/>
zu glauben, daß alles im Gleichgewichte ſtehe. Schwanenpfuͤle<lb/>
und moderndes Stroh, indianiſche Vogelneſter und Kleibrod, be-<lb/>
wirthen ihre alten Bekanten gleich gut. Nur das Gewiſſen, nur<lb/>
die Gnade oder Ungnade Gottes beſtimmt unſer Schickſal. So<lb/>
wie das heilige Abendmal alle Guͤſte gleich ſetzet, ſo ſtellet uͤber-<lb/>
haupt die Religion Jeſu die urſpruͤngliche Gleichheit der Menſchen<lb/>
her. Sie erniedriget den Hohen und erhebet den Niedrigen.<lb/>
Den Himmel im Geſichte, vergißt man der verſchiednen Kleider-<lb/>
trachten der Erde, und ſchmecket und ſieht nur, wie freundlich<lb/>
der Herr ſey. O! du guͤtigſter Gott! haͤtte ich doch niemals<lb/>
uͤber mein Schickſal gemurret! Wenn ich jetzt ruhig ſchlafen kan;<lb/>
was fehlet mir? Und koͤnte ich es nicht: ſo bin ich ja doch gluͤck-<lb/>
lich, wenn ich mich mit dir auf meinem Lager unterhalten kan!<lb/>
Die Welt kan dem Chriſten wenig helfen oder ſchaden.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[348[378]/0385]
Der 16te Junius.
Pasquill auf ſich, und ein ungeſtuͤmer Bettler wird mit Hunden
gehetzt; jener erhaͤlt eine Praͤbende, dieſer eine Semmel: ſie em-
pfinden beide gleich viel und gleich wenig. Sie ſehen es fuͤr Fol-
gen ihrer Lebensart an.
Man nehme das Ganze zum Maaßſtabe an. Von der Wiege
bis zum Sarge ſummire man alle frohe und traurige Stunden;
ſo wird zwiſchen Gelehrten und Unwiſſenden, Herrſchaft und Ge-
ſinde, Geſunden und Kranken wenig Unterſchied bleiben. Aber
man lege nun noch das Schickſal der Kinder und Kindeskinder
hinzu: ſo wird es ſchwer werden, den Ausſchlag der Wage zu
beſtimmen. Und dis Schickſal wuͤrden ſich Eltern doch gerne
fuͤr ihr eignes anrechnen laſſen? Der reiche, geſunde, ſchoͤne und
geehrte Wucherer hat nichtswuͤrdige Kinder und bettelnde oder
gar ſtraſſenraͤuberiſche Enkel: ſein armer, kraͤnklicher, verachteter
Nachbar bluͤhet nach einem halben Jahrhundert in ſeinen Kindern;
welche Familie unter beiden iſt die gluͤcklichſte?
Rechne ich zu dem allen noch hinzu, was Gewiſſensbiſſe,
Vergnuͤgen an Gott, Macht der Religion, und ſonderlich was
Himmel und Hoͤlle fuͤr einen Ausſchlag geben: ſo bin ich geneigt
zu glauben, daß alles im Gleichgewichte ſtehe. Schwanenpfuͤle
und moderndes Stroh, indianiſche Vogelneſter und Kleibrod, be-
wirthen ihre alten Bekanten gleich gut. Nur das Gewiſſen, nur
die Gnade oder Ungnade Gottes beſtimmt unſer Schickſal. So
wie das heilige Abendmal alle Guͤſte gleich ſetzet, ſo ſtellet uͤber-
haupt die Religion Jeſu die urſpruͤngliche Gleichheit der Menſchen
her. Sie erniedriget den Hohen und erhebet den Niedrigen.
Den Himmel im Geſichte, vergißt man der verſchiednen Kleider-
trachten der Erde, und ſchmecket und ſieht nur, wie freundlich
der Herr ſey. O! du guͤtigſter Gott! haͤtte ich doch niemals
uͤber mein Schickſal gemurret! Wenn ich jetzt ruhig ſchlafen kan;
was fehlet mir? Und koͤnte ich es nicht: ſo bin ich ja doch gluͤck-
lich, wenn ich mich mit dir auf meinem Lager unterhalten kan!
Die Welt kan dem Chriſten wenig helfen oder ſchaden.
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 348[378]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/385>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.