Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Der 10te Junius.

Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend führet, nemlich
am Ende in den Himmel: der Lasterhafte ist ein todter Körper,
mit welchem die Wellen spielen; wer kan wissen, wo sie ihn anle-
gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenstein, statt seiner
Pralerei, ein Geschlechtsregister der Laster lieferte! "Hier ruhet
eine unglückliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung
über ihren harten und verschwenderischen Mann aufrieb." Aber
höher herauf müßte auch gelesen werden: "aus Eigenliebe hörte sie
die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebäugeln an, und ward eine
Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und rächte sich." Nicht weit
davon ist das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! stünde
doch das Epitaphium darüber; "mich tödtete, ehe ich das Licht
sah, die stolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich tödtete
um einige Jahre später ein innrer Brand, welchen mir die Völle-
rei meines Vaters anerbte!"

So reden Gräber, oder so solten sie reden. Und fast jedes
sieche Gesicht, jeder winselnde Laut beziehet sich auf eine zusam-
menhängende Geschichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee-
bällen immer grösser wurden. Hör und sieh, verführtes Gemüth!
wenn du nicht denken wilst. Aus Gefängnissen, Zuchthäusern,
Galeeren und Spitälern fluchet, heulet, knirschet und keicht dir
das Laster scheußlich entgegen, welches zehn Jahre früher vieleicht
noch eine allerliebste kleine Unart war. -- O! ich will wachsam
über mein Herz seyn. Hitzig wird es von Leidenschaften belagert,
aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hören. Gott! wäre
ich doch unsträflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren
eine verbotne Lust, und schon hat diese Wurzel einen breiten
Stammbaum getrieben. Eine mich beschimpfende Ahnentafel!
Wasch sie mit deinem Blute ab, zertrümmre, vertilg sie, o Jesu!
Meine jetzige Empfindung müsse morgen tugendhafte Handlung,
diese ein Schritt zu einer neuen, und so in fortlaufender Linie eine
Grundlage von Millionen der Tugenden werden!

Der
Der 10te Junius.

Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend fuͤhret, nemlich
am Ende in den Himmel: der Laſterhafte iſt ein todter Koͤrper,
mit welchem die Wellen ſpielen; wer kan wiſſen, wo ſie ihn anle-
gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenſtein, ſtatt ſeiner
Pralerei, ein Geſchlechtsregiſter der Laſter lieferte! „Hier ruhet
eine ungluͤckliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung
uͤber ihren harten und verſchwenderiſchen Mann aufrieb.„ Aber
hoͤher herauf muͤßte auch geleſen werden: „aus Eigenliebe hoͤrte ſie
die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebaͤugeln an, und ward eine
Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und raͤchte ſich.„ Nicht weit
davon iſt das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! ſtuͤnde
doch das Epitaphium daruͤber; „mich toͤdtete, ehe ich das Licht
ſah, die ſtolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich toͤdtete
um einige Jahre ſpaͤter ein innrer Brand, welchen mir die Voͤlle-
rei meines Vaters anerbte!„

So reden Graͤber, oder ſo ſolten ſie reden. Und faſt jedes
ſieche Geſicht, jeder winſelnde Laut beziehet ſich auf eine zuſam-
menhaͤngende Geſchichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee-
baͤllen immer groͤſſer wurden. Hoͤr und ſieh, verfuͤhrtes Gemuͤth!
wenn du nicht denken wilſt. Aus Gefaͤngniſſen, Zuchthaͤuſern,
Galeeren und Spitaͤlern fluchet, heulet, knirſchet und keicht dir
das Laſter ſcheußlich entgegen, welches zehn Jahre fruͤher vieleicht
noch eine allerliebſte kleine Unart war. — O! ich will wachſam
uͤber mein Herz ſeyn. Hitzig wird es von Leidenſchaften belagert,
aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hoͤren. Gott! waͤre
ich doch unſtraͤflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren
eine verbotne Luſt, und ſchon hat dieſe Wurzel einen breiten
Stammbaum getrieben. Eine mich beſchimpfende Ahnentafel!
Waſch ſie mit deinem Blute ab, zertruͤmmre, vertilg ſie, o Jeſu!
Meine jetzige Empfindung muͤſſe morgen tugendhafte Handlung,
dieſe ein Schritt zu einer neuen, und ſo in fortlaufender Linie eine
Grundlage von Millionen der Tugenden werden!

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0373" n="336[366]"/>
            <fw place="top" type="header">Der 10<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</fw><lb/>
            <p>Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend fu&#x0364;hret, nemlich<lb/>
am Ende in den Himmel: der La&#x017F;terhafte i&#x017F;t ein todter Ko&#x0364;rper,<lb/>
mit welchem die Wellen &#x017F;pielen; wer kan wi&#x017F;&#x017F;en, wo &#x017F;ie ihn anle-<lb/>
gen werden! Wenn uns doch mancher Leichen&#x017F;tein, &#x017F;tatt &#x017F;einer<lb/>
Pralerei, ein Ge&#x017F;chlechtsregi&#x017F;ter der La&#x017F;ter lieferte! &#x201E;Hier ruhet<lb/>
eine unglu&#x0364;ckliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung<lb/>
u&#x0364;ber ihren harten und ver&#x017F;chwenderi&#x017F;chen Mann aufrieb.&#x201E; Aber<lb/>
ho&#x0364;her herauf mu&#x0364;ßte auch gele&#x017F;en werden: &#x201E;aus Eigenliebe ho&#x0364;rte &#x017F;ie<lb/>
die Schmeicheleien der Stutzer mit Lieba&#x0364;ugeln an, und ward eine<lb/>
Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und ra&#x0364;chte &#x017F;ich.&#x201E; Nicht weit<lb/>
davon i&#x017F;t das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! &#x017F;tu&#x0364;nde<lb/>
doch das Epitaphium daru&#x0364;ber; &#x201E;mich to&#x0364;dtete, ehe ich das Licht<lb/>
&#x017F;ah, die &#x017F;tolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich to&#x0364;dtete<lb/>
um einige Jahre &#x017F;pa&#x0364;ter ein innrer Brand, welchen mir die Vo&#x0364;lle-<lb/>
rei meines Vaters anerbte!&#x201E;</p><lb/>
            <p>So reden Gra&#x0364;ber, oder &#x017F;o &#x017F;olten &#x017F;ie reden. Und fa&#x017F;t jedes<lb/>
&#x017F;ieche Ge&#x017F;icht, jeder win&#x017F;elnde Laut beziehet &#x017F;ich auf eine zu&#x017F;am-<lb/>
menha&#x0364;ngende Ge&#x017F;chichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee-<lb/>
ba&#x0364;llen immer gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er wurden. Ho&#x0364;r und &#x017F;ieh, verfu&#x0364;hrtes Gemu&#x0364;th!<lb/>
wenn du nicht denken wil&#x017F;t. Aus Gefa&#x0364;ngni&#x017F;&#x017F;en, Zuchtha&#x0364;u&#x017F;ern,<lb/>
Galeeren und Spita&#x0364;lern fluchet, heulet, knir&#x017F;chet und keicht dir<lb/>
das La&#x017F;ter &#x017F;cheußlich entgegen, welches zehn Jahre fru&#x0364;her vieleicht<lb/>
noch eine allerlieb&#x017F;te kleine Unart war. &#x2014; O! ich will wach&#x017F;am<lb/>
u&#x0364;ber mein Herz &#x017F;eyn. Hitzig wird es von Leiden&#x017F;chaften belagert,<lb/>
aber ich will durchaus von keiner Uebergabe ho&#x0364;ren. Gott! wa&#x0364;re<lb/>
ich doch un&#x017F;tra&#x0364;flich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren<lb/>
eine verbotne Lu&#x017F;t, und &#x017F;chon hat die&#x017F;e Wurzel einen breiten<lb/>
Stammbaum getrieben. Eine mich be&#x017F;chimpfende Ahnentafel!<lb/>
Wa&#x017F;ch &#x017F;ie mit deinem Blute ab, zertru&#x0364;mmre, vertilg &#x017F;ie, o Je&#x017F;u!<lb/>
Meine jetzige Empfindung mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e morgen tugendhafte Handlung,<lb/>
die&#x017F;e ein Schritt zu einer neuen, und &#x017F;o in fortlaufender Linie eine<lb/>
Grundlage von Millionen der Tugenden werden!</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[336[366]/0373] Der 10te Junius. Der Fromme weiß, wohin ihn die Tugend fuͤhret, nemlich am Ende in den Himmel: der Laſterhafte iſt ein todter Koͤrper, mit welchem die Wellen ſpielen; wer kan wiſſen, wo ſie ihn anle- gen werden! Wenn uns doch mancher Leichenſtein, ſtatt ſeiner Pralerei, ein Geſchlechtsregiſter der Laſter lieferte! „Hier ruhet eine ungluͤckliche Ehegattin, welche Gram und Verzweiflung uͤber ihren harten und verſchwenderiſchen Mann aufrieb.„ Aber hoͤher herauf muͤßte auch geleſen werden: „aus Eigenliebe hoͤrte ſie die Schmeicheleien der Stutzer mit Liebaͤugeln an, und ward eine Buhlerin: ihr Gatte erfuhr es, und raͤchte ſich.„ Nicht weit davon iſt das kleine Grab zweier hofnungsvoller Kinder. O! ſtuͤnde doch das Epitaphium daruͤber; „mich toͤdtete, ehe ich das Licht ſah, die ſtolze Kleidertracht meiner Mutter: und mich toͤdtete um einige Jahre ſpaͤter ein innrer Brand, welchen mir die Voͤlle- rei meines Vaters anerbte!„ So reden Graͤber, oder ſo ſolten ſie reden. Und faſt jedes ſieche Geſicht, jeder winſelnde Laut beziehet ſich auf eine zuſam- menhaͤngende Geſchichte von Fehlern, die gleich gekollerten Schnee- baͤllen immer groͤſſer wurden. Hoͤr und ſieh, verfuͤhrtes Gemuͤth! wenn du nicht denken wilſt. Aus Gefaͤngniſſen, Zuchthaͤuſern, Galeeren und Spitaͤlern fluchet, heulet, knirſchet und keicht dir das Laſter ſcheußlich entgegen, welches zehn Jahre fruͤher vieleicht noch eine allerliebſte kleine Unart war. — O! ich will wachſam uͤber mein Herz ſeyn. Hitzig wird es von Leidenſchaften belagert, aber ich will durchaus von keiner Uebergabe hoͤren. Gott! waͤre ich doch unſtraͤflich vor dir! Aber ich erlaubte mir vor Jahren eine verbotne Luſt, und ſchon hat dieſe Wurzel einen breiten Stammbaum getrieben. Eine mich beſchimpfende Ahnentafel! Waſch ſie mit deinem Blute ab, zertruͤmmre, vertilg ſie, o Jeſu! Meine jetzige Empfindung muͤſſe morgen tugendhafte Handlung, dieſe ein Schritt zu einer neuen, und ſo in fortlaufender Linie eine Grundlage von Millionen der Tugenden werden! Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/373
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 336[366]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/373>, abgerufen am 22.11.2024.